Das Lenbachhaus präsentiert den faszinierend-verstörenden Zeichner Alfred Kubin – den Sonderling und Sonderfall unter den Künstlern des »Blauen Reiter«.
Bocksbeinig, doppelzüngig biegt sich ein hysterisch zur Schlange gebogenes weibliches Wesen über eine resigniert blickende, festgenagelte »männliche Sphinx« mit mächtigem schlangengleichen Geschlecht. Tierische »Sauger« malträtieren Extremitäten und Glied eines karikaturhaften Mannes. Ekelhaft winden sich »Schlangen in der Stadt« und drohen in der biedermeierlich anmutenden Idylle, trotz Feuerwehr- und Militäreinsatz, alles zu verschlingen: Vor dem Café steht scheinbar ungerührt ein Beobachter inmitten des kriechenden, züngelnden Gewürms und hektischer Betriebsamkeit. Der Besucher der Ausstellung im Lenbachhaus betritt einen Kosmos aus Angstvisionen, Folter- und Ohnmachtsszenen, lasziven Fantasien und Albträumen.
Kubin erschien die Welt als ein »Irrgarten«, in dem er sich als »Zeichner« zurechtfinden musste. Er selbst führte diese Bild- und Vorstellungswelt auf frühe Eindrücke »zwischen Entzückung oder Schauder« zurück. In Metamorphosen finden sich Fragmente traumatischer Szenen der Kindheit verarbeitet, die den frühen Tod der Mutter, einen übermächtigen, grausamen Vater und verwirrende, frühe sexuelle Erfahrungen verkraften musste. Es folgte ein Leben zwischen psychischer Entgrenzung und Selbstkontrolle, zwischen Arbeitsstörung und Arbeitsdrang. Wer ist dieser Alfred Kubin, der den Besucher am Eingang erwartet, in verhaltener Pose neben einem Bücherregal, ernst blickend, sensibel und komplex, doppelbegabt für Kunst und Literatur? Das Lenbachhaus widmet ihm, der 1898 die Münchner Bühne der Boheme und Avantgarde betrat und bis zu seinem Umzug nach Zwickledt 1906 hier entscheidende Jahre seines Lebens verbrachte, eine Ausstellung, die manches Urteil über ihn relativiert und der Forschung neue Impulse gibt. In fünf farbig verschieden akzentuierten Räumen bringt sie Licht in das meist düstere Werk, zeigt in chronologischer Folge Bilder des oft nur als kauzigen Einzelgänger und Illustrator wahrgenommenen Zeichners. Entkleidet so mancher Selbstinszenierung Kubins präsentiert sie einen umsichtig agierenden, am Puls der Zeit und in vielfältigen Beziehungen zu den führenden Vertretern der Avantgarde stehenden Künstler.
Der erste Raum ist ein Kabinett mit Kinderzeichnungen und frühen Blättern – die spukhaften Einfälle und Fantasien scheinen im Keim bereits den ganzen Kubin zu enthalten. Die »Landschaft mit Tieren« des Elfjährigen bändigt artig den Dschungel der abgründigen Gefühle, die auf dem Blatt des Sechsjährigen unter dem Stab eines übermächtigen Zauberers virulent zu werden beginnen. Auf dem kindlichen Wimmelbild von 1883 fliegt auf der einen Seite die Welt auseinander, während auf der anderen Seite der Tod, Plagegeister und Tierwesen eindringen; winzig beginnt ein Vogelmann zu laufen, der auf einem Blatt der berühmten Hans von Weber-Mappe zwanzig Jahre später in riesenhafter Pose gequält und resigniert zum Sitzen kommt. Im Surrealismus begegnet er uns wieder als »Loplop« bei Max Ernst.
Diese berühmte, in der Ausstellung vollständig gezeigte Mappe von 1903 ist ein erster Höhepunkt in Kubins Frühwerk. Hans von Weber war ein früher Förderer, der den jungen Künstler, dessen zwanghaft erotische, oft pornografische Fantasien in den Schwabinger Künstler- und Literatenkreisen als Geheimtipp zirkulierten, als Erster veröffentlichte. Sie machten den sensiblen, von Arbeitsstörungen geplagten Grafiker bekannt, der nach einem durch die Begegnung mit Max Klingers Radierzyklus »Paraphrase über den Fund eines Handschuhs« ausgelösten, oft zitierten halluzinatorischen Schub eine Flut von Bildern produzierte. Nicht ohne psychologische Brisanz bedeckte er die leere Seite von Katasterpapieren aus dem Besitz des Vaters, der Geologe war, die Rückseite zeigt Flurpläne. Diese nicht nur fieberhaften, sondern technisch versiert ausgeführten, an vielen Vorbildern wie Goya, Félicien Rops, und Aubrey Beardsley geschulten lavierten, gespritzten, schraffierten Federzeichnungen sind Vermessungen von Seelenlandschaften, die ihn als feste Größe in die Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg einschrieben. Auch zählte Kubin zu den Gründungsmitgliedern des »Blauen Reiter«.
Es ist in Vergessenheit geraten, dass Kandinsky schon früh auf den sensiblen Künstler aufmerksam wurde und ihn im Januar 1904 in der letzten Ausstellung der damals progressiven Künstlervereinigung »Phalanx« mit einer umfangreichen Präsentation des Frühwerks weiter bekannt machte. Kubin sollte im Fokus der wechselhaften, spannungsreichen Geschichte der Münchner Kunst bleiben: über die Gründung der »Neuen Künstlervereinigung München« bis hin zu den Aktivitäten des »Blauen Reiter«. Kandinsky und Gabriele Münter holten ihn durch zauberhafte, verführerische Briefe in die Farbenwelt der berühmten Künstlergruppe hinein, im Wunsch, Fantasie und Geistiges mit der angestrebten Synthese von »inneren und äusseren Eindrücken« zu verbinden.
Die von Annegret Hoberg kuratierte Ausstellung erhellt einen neuen Aspekt der Geschichte des »Blauen Reiter«. Reiches Brief- und Fotomaterial aus dem sensationell umfangreichen Kubin-Archiv, das im Lenbachhaus liegt und nun digitalisiert ist, zeigen Kubin inmitten eines lebendigen Kreises von
Künstlern, die sich gegenseitig wertschätzten und förderten. Die farbigen Bilder und Blätter aller Protagonisten des »Blauen Reiter« treten in Beziehung zu den Werken Kubins der selbst nur kurz mit farbiger Kleistermalerei und Gouachen im Stile Gauguins experimentierte. Im reichhaltigen Katalog, der zum ersten Mal den Briefwechsel Kubins mit den Kolleginnen und Kollegen veröffentlicht, lässt sich im Detail nachvollziehen, wie er, der sich der Münchner Szene entzog und 1906 endgültig in seine »Arche«, das Schlösschen Zwickledt in Oberösterreich, übersiedelte, dennoch präsent blieb.
Neben einer Auswahl aus Kubins Œuvre bis 1920 sind in schöner Vollständigkeit die Publikationen zu sehen, die über München hinaus großen Eindruck machten: eben die bei Hans von Weber erschienene Mappe mit Faksimiles, der fantastische Roman »Die andere Seite« (1909), der die Zeitgenossen bis hin zu Kafka mit seiner atmosphärischen Dichte des Zerfalls zugleich verstörte und begeisterte, die feinen gespinstartigen Zeichnungen der »Sansara«-Mappe von 1911, die sich verdunkeln und verdichten im Werk »Der Prophet Daniel« von 1918, das auf ein nicht zu Ende geführtes Bibel-Illustrationsprojekt mit Franz Marc und Paul Klee verweist. Der Krieg hatte alles unterbrochen. ||
PHANTASTISCH! ALFRED KUBIN UND DER BLAUE REITER
Lenbachhaus| Luisenstr. 33 | bis 17. Februar 2019| Di 10–20 Uhr, Mi bis So/Fei 10–18 Uhr | Der Katalog (Wienand Verlag, 304 S., 142 Tafeln und zahlr. Abb.) kostet im Museum 32 Euro
Führungen: Sonntage, jeweils von 14–15 Uhr: 6. Jan., 26. Jan., 17. Feb.
Mitarbeiterführungen: 15. Jan., 18 Uhr; 8. Feb., 16 Uhr | Dienstage, jeweils von 18–19 Uhr: 5. Feb., 12. Feb.
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