Eisa Jocson reenactet Schneewittchen, Marta Górnicka komponiert eine pessimistische Chor-Oper und Louis Vanhaverbeke baut eine Traumwelt.

Das Publikum überrennen: Marta Górinckas „Hymne an die Liebe“. Copyright: Magda Hueckel

Erst wiegen sie sich einfach nur hin und her, immer eine Fußspitze graziös aufgesetzt. Langsam wird die Bewegung ausholender, die Arme malen Schleifen in die Luft. Choreografin Eisa Jocson aus Manila und Performer Russ Ligtas grooven sich ein. In »Princess« eignen sie sich das Bewegungsvokabular von Disneys Schneewittchen an, schreiben es in ihre Körper ein. Dass Jocson damit letztlich die ethnische Diskriminierung von philippinischen Tänzerinnen in Disneyland Hongkong anprangert – sie kommen im Märchenland nämlich nur als Randfiguren vor, Schneewittchen ist weiß – muss man im Programmheft nachlesen. Jocson und Ligtas begnügen sich nicht mit einer Rekonstruktion der Bewegungsabläufe, die mit ihrem grazilen Gehüpfe und Getripple ein Mädchenbild von vorvorgestern darstellt. Sie übernehmen mit quietschiger Comicstimme Textfragmente des Märchenfilms, die immer wieder wiederholt und gegeneinander versetzt werden. Die Kieksstimmen nerven auf Dauer gewaltig und die ausgedehnte Publikumsbefragung trägt nichts zum Erkenntnisgewinn der Zuschauer bei. In einer schönen Metamorphose befreien Jocson und Ligtas sich schließlich von den Kostümen, um doch wieder als Schneewittchen dazustehen. So kratzt »Princess« nur an der Oberfläche.

Bedrohtes Paradies Europa
Einigermaßen verstört lässt dagegen Marta Górnickas »Hymne an die Liebe« einen zurück. Aus nationalistischen, religiösen und völkischen Liedern, Aussagen von politischen Fundamentalisten und katholischen Gebetstexten komponiert die Regisseurin und Sängerin aus Warschau ein Chorwerk des Schreckens. 25 Darsteller verschiedener Größe, Haar- und Hautfarbe, verschiedenen Alters und Geschlechts skandieren in immer neuen Konstellationen Parolen von Hass und Dummheit oder legen sie einem Zoo aus Kuscheltieren in den Mund. Stürmen auf das Publikum zu, als wollten sie es überrennen, so wie eine Welle nationalistischer Verblödung Europa zu zerstören droht. Sie formieren sich immer wieder neu, in Gesten der Hoffnung, des Pathos, in Kampfchoreografien und Marschformationen, die sich auseinander ergeben und ineinander fließen. So wie sich das Schreien, Skandieren, Singen, Säuseln und Murmeln zu einer Oper verdichtet. An einer Stelle wirkt das Ensemble wie ein Rudel wilder Tiere. Zusammengekrümmt und knurrend hat es sich an die Rückwand verzogen, aus seinen Mündern bellt das Wort Menschen. Ein unheimlicher Moment. Die Klugheit dieser Arbeit liegt darin, Statements unkommentiert nebeneinanderzustellen und so ihre Grausamkeit zu entlarven. So erzählt sie uns mehr über den Zustand Europas, als wir vielleicht wahrhaben wollen.

Do-it-yourself-Paradies
Ganz und gar zauberhaft ist das Bild, das Louis Vanhaverbeke aus Gent in seiner Performance »Multiverse« zeichnet. Es beginnt mit der Schöpfungsgeschichte und endet mit dem ersten Flug zum Mond. Dazwischen breitet Vanhaverbeke sein Universum aus, das sich vor allem um eines dreht: das Kreisen. Am Anfang ist da einfach nur jede Menge Kram auf der Bühne und ein junger Mann, der die Entstehung der Welt in eine Spoken-Word-Performance kleidet. Es fängt ganz langsam an: Eine Plastikflasche, in die Türchen reingeschnitten wurden, hängt an einem Faden. Damit rennt Vanhaverbeke im Kreis herum, lässt die Flasche fliegen wie einen Propeller. Als ob er ein Perpetuum mobile bauen wollte, setzt er unablässig Alltagsgegenstände wie Mopp, Globus, Gießkanne, Trichter zusammen und vor allem auf alle möglichen Plattenspieler drauf, sodass sich alles wie ein großes Karussell unaufhörlich im Kreis dreht. Man kommt sich ein bisschen vor wie in Pippi Langstrumpfs Paradies aus unnützem Kram. Der Sachensucher Vanhaverbeke entzückt mit unerwartet aufploppenden Bildern und komischen Umziehaktionen. In seiner Entdeckungslust erinnert der Performer aber auch an Daniel Düsentrieb. Seine Erfindungen sind mindestens genauso absurd wie die der Comicfigur. Zum Soundtrack der gefühlt siebziger Jahre lässt er eine Kerze im Wind kreisen und backt Pfannkuchen. Der Aufbruch zur ersten Mondlandung ist in viel Trockeneisnebel gehüllt. Doch warum die Erde verlassen, wenn sich hier alles so schön dreht und sogar der Plattenspieler Walzer tanzt?

Nächste Spieltermine:
Princess | 11. November | 19.30 Uhr | Kammer 2
Multiverse | 11. November | 21 Uhr | Muffatwerk

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