»Kunst ist immer Missbrauch« Milo Raus »120 Tage von Sodom« | © Toni Suter

Um Macht und Ohnmacht geht es in beiden Produktionen, die am dritten Festivaltag Spielart-Premiere feierten. Laila Soliman aus Kairo erzählt in »Zig Zig« von den Übergriffen britischer Besatzer auf das ägyptische Dorf Nazlat al-Shobak im Jahr 1919. Im Fokus: 12 mutige Bauersfrauen, die ihre Vergewaltigung anzeigten, aber vor dem Militärgericht keine Chance hatten. Auf der Bühne: vier Erzählerinnen und eine Geigerin an fünf kleinen Pulten. Bevor die von etlichen europäischen Institutionen koproduzierte Arbeit der 2012 durch einen Dokumentartheaterabend zur ägyptischen Revolution international bekannt gewordenen Regisseurin mit einer schön gesungenen Klage zu Ende geht und der eigenen, nicht durch die Übersetzung in die Sprache der Besatzer gebrochenen Stimme der Geschändeten wenigstens so zu ihrem Recht verhilft, reihten sich sehr wenige anschauliche Szenen, nüchterne Lesungen aus den Gerichtsakten und etliche mehr oder weniger emotionalisierte Verhörsituationen aneinander.

Solimans Respekt für jede der Frauen in Ehren: Aber in Summe wirkt das eher redundant als erhellend. Man spürt zwar, wie die Klägerinnen im Kreuzfeuer misstrauischer Fragen zerrieben und bewusst unglaubwürdig gemacht wurden, deren Nötigung das geltende Gesetz ohnehin nur mit skandalösen zwei Jahren Gefängnis bestraft hätte (und die Beschädigung von Bäumen mit fünf!). Dennoch stellt man sich als Zuschauer dieser auch formal unausgereift wirkenden Arbeit ebenfalls die Frage nach dem Wert von Aussagen, die mit irrwitziger Detailgenauigkeit wie aus der Pistole geschossen werden. Die Instrumentalisierung der Frauen durch die Ortsoberen als Waffe auf dem Weg zur Unabhängigkeit steht als Möglichkeit stets im Raum und nimmt ihrem Leid die Spitze.

Inhaltlich und formal ungleich komplexer, aber ebenso zwiespältig ist Milo Raus »Die 120 Tage von Sodom«. Die jüngste Arbeit des Dokumentartheaterspezialisten und designierten Intendanten des NT Gent kam im Februar dieses Jahres am Schauspielhaus Zürich heraus und stellt auf der Folie von Pier Paolo Pasolinis einstigem Skandalfilm einige Fragen an die Verfahren der Kunstproduktion und unsere bigotte Moral. Denn neben vier Ensemblemitgliedern des Hauses, die sich hier spielerisch enorm zurückgenommen auf die metatheatralische Reflexionsebene und private Zeugenschaft kaprizieren, stehen elf Akteure des Theater Hora auf der Bühne: Geistig Behinderte, die sich vor den Augen zahlender Bürger im gespielten Liebesspiel ergehen, einander mit »Scheiße« füttern und in einer endlos langen Splatterszene Leben, Finger, Penis oder einen toten Embryo verlieren. Die ganz nah heranfahrende Live-Cam wirft diese blutigen Details übergroß an die Wand, stellt ihre Künstlichkeit aus (und lässt einen dennoch die Augen vor ihnen verschließen).

Den möglichen Vorwurf, hier würden »arme Behinderte« zu Schauzwecken missbraucht, federt der gewiefte Rau in etlichen Einschüben ab; verweist auf den strukturellen Missbrauch der Kunst (»Kunst ist immer Missbrauch. Sie geht immer zu weit.«) wie auf die Pränataldiagnostik, die heute neun von zehn Behinderte erst gar nicht auf die Welt kommen lässt. Mithin hat man es hier mit den letzten Überlebenden des wohl einzigen gesellschaftlich sanktionierten Genozids unserer Tage zu tun. Die moralische Entrüstung über den postnatalen Umgang mit ihnen soll sich so wohl gewissermaßen verbieten. Ohnehin aber agiert der Abend so sauber, so x-fach abgesichert, verpackt die Gewalt an den Figuren in so viele freundliche Gesten und einfühlsame Fragen den Spielern gegenüber, das manches zwar verwirrt, aber kaum etwas bewegt. Mit einigem Nachdruck stößt er uns lediglich auf die Konditioniertheit des eigenen Blickes, wenn etwa Julia Häusermann sehr selbstbewusst und sexy tanzend ihr nacktes (und gewaltiges) Hinterteil schwenkt oder Gianni Blumer und Fabienne Villiger über ihre Verliebtheit sprechen – und das Publikum entzückt gluckst.

Nächste Spieltermine:
Laila Soliman: Zig Zig / Montag, 30. Oktober / 20 Uhr HochX
Milo Rau: Die 120 Tage von Sodom / Montag, 30. Oktober / 20 Uhr / Münchner Kammerspiele (ausverkauft)

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