Die israelische Autorin Mira Magén über das Chaos in Jerusalem, orthodoxe Vorurteile, ihren arabischen Hausmeister und ihren neuen Roman.
Neben Zeruya Shalev zählt Mira Magén zu den bedeutendsten Autorinnen Israels. Ihr Werk, das mehr als ein Dutzend Romane und Erzählungen umfasst, wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. fünf Mal mit dem Gold Book Prize der israelischen Verlagshäuser. Aufgewachsen in einer jüdisch-orthodoxen Familie in Kfar Saba nördlich von Tel Aviv, studierte Magén später Psychologie und Soziologie in Jerusalem, arbeitete als Lehrerin, Sekretärin und Krankenschwester. Soeben ist ihr neuer Roman »Zu blaue Augen« (dtv) erschienen. Die 67-Jährige hat drei erwachsene Kinder und hält Poetik-Vorlesungen an der Hebräischen Universität ihrer Wahlheimatstadt Jerusalem.
Vermissen Sie Jerusalem, wenn Sie auf Reisen sind?
Sie meinen die angespannte Atmosphäre, die Martinshörner der Krankenwagen und die Polizeisirenen? Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber das alles vermisse ich tatsächlich manchmal. Ich glaube fast, dass diese Anspannung meinen Schreibprozess und viele andere kreative Arbeiten vorantreibt. Gelegentlich kommt es mir so vor, als würden wir Israelis mit all dem Lärm und Chaos versuchen, Gott auf uns aufmerksam zu machen.
Europa ist Ihnen also zu ruhig?
Ja. So schön es ist, auch einmal zu entspannen – mir wird schnell langweilig. Und ich bin immer wieder erstaunt, dass ich hier in Deutschland einfach so meine Tasche in ein Restaurant mitnehmen darf oder dass nicht überall mein Gepäck kontrolliert wird.
Sie stammen aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, deren Kinder vom Militärdienst befreit waren. Warum sind Sie trotzdem mit 18 Jahren freiwillig zur Armee gegangen?
Das war eine Art Rebellion. Ich wollte raus aus dieser religiösen Welt, rein ins richtige Leben. Für meine Familie war dasein Schock, aber letztlich haben sie es akzeptiert. Wenn ich an den Wochenenden vom Militärdienst nach Hause kam, zog ich immer einen Rock über meine Uniform, damit ich unter den
Orthodoxen nicht sofort auffiel. Später war es mir zunehmend egal, wie man über mich und mein weltliches Leben dachte.
Wie verstehen Sie sich heute mit Ihren Eltern und Geschwistern?
Grundsätzlich besteht leider eine tiefe Kluft zwischen uns, ähnlich jener in der israelischen Gesellschaft. Sie sind religiös und eher rechts auf der politischen Landkarte, ich bin säkular und eher links. Wenn wir uns treffen und an einem großen runden Tisch sitzen, gilt die eiserne Regel: Es darf über alles gesprochen werden außer über Politik und Religion.
In Ihrem neuen Roman spielt eine 77-Jährige aus Jerusalemdie Hauptrolle, die auf Konventionen pfeift und trotz Rückschlägen ihr verrücktes Leben genießt. Wie kamen Sie auf diese Figur?
Hannah Jonah ist das Gegenteil meiner Mutter, der es immer wichtig war, was die Nachbarn dachten. Sie richtete sich nach sozialen und religiösen Normen. Daran habe ich mich immer gerieben – auch noch, als meine Mutter schwer krank wurde und sich ganz langsam aus dem Leben verabschiedet hat. Ich musste diese Antipodin erfinden, um mich von meiner Mutter friedlich lösen zu können. Ich selbst würde gerne so frei leben können wie Hannah Jonah – insofern ist sie wohl auch ein gewünschtes Alter Ego. Denn es stimmt, was sie sagt: Jeder hatein Recht auf Verrücktheit!
Nach Ihrem Studium haben Sie in verschiedenen Berufengearbeitet, vor allem als Krankenschwester. Was hat Sie daran gereizt?
Ich habe mich schon immer für das menschliche Wesen mit all seinen Widersprüchen interessiert. Der Frage, warum wir uns so verhalten, wie wir es tun, kann man nur an wenigen Orten so authentisch nachspüren wie in einem Krankenhaus. Dort leiden die Menschen, sie werden auf sich selbst zurückgeworfen, sind allein, wollen eine Antwort finden. Schon nach kurzer Zeit als Krankenschwester habe ich mich allerdings gefragt, warum Gott so viel Leid zulässt. Mich hat es traurig gemacht, dass ich meist nichts am Krankheitsverlauf der Patienten ändern konnte und mit ansehen musste, wie sie ihrem Schicksal ergeben waren. So entstand mein Wunsch, selbst bestimmen zu können, wer wie lange lebt – und das konnte ich nur als Schriftstellerin.
Wie hat Ihr orthodoxes Umfeld darauf reagiert, dass Sie Bücher schreiben, in denen auch mal Gott infrage gestellt und Sex beschrieben wird?
Meine Mutter hat mich oft gebeten, bloß nicht über Intimitäten zuschreiben. Letztlich hat sie aber meinen Weg akzeptiertund mich unterstützt. Und was meine orthodoxen Nachbarn betrifft: Ein paar Tage nachdem mein erster Roman erschienen war, klopfte es an meiner Tür. Ich öffnete, und da stand ein Mädchen mit einem riesigen Blumenstrauß. Sie gehörte zu einer der religiösesten Familien in dem Wohnkomplex, in dem ich damals wohnte, und überreichte mir die Blumen. In dem Strauß steckte eine Notiz, auf der stand: »Wir werden zwar nie Ihre Bücher lesen, aber wir akzeptieren, dass Sie sie schreiben und gratulieren Ihnen herzlich zu Ihrem Erfolg.« Das hat mich sehr bewegt, und die Notiz habe ich aufbewahrt.
Inzwischen leben Sie in einem eigenen Haus. Stimmt es, dass Sie dort einen arabischen Hausmeister beschäftigen?
Ja, und Sie können sich sicher vorstellen, wie meine Familie reagierte. »Bist du verrückt? Der wird dich ausrauben und eineBombe legen!«, hörte ich immer wieder. Nichts davon ist passiert. Ich vertraue diesem Mann, er hat einen Schlüssel für mein Haus. Für mich gehört er zur Familie, auch wenn er Araber ist und jedes Mal auf dem Weg aus den besetzten Gebieten zu mir an der Grenze kontrolliert wird. Die Welt ist manchmal ungerecht, das zeigt auch sein Fall.
Wie meinen Sie das?
Unser Leben ist von vielen Faktoren abhängig: Allein die Tatsache, wo und wann man geboren wird oder zu welchem Volk man gehört, entscheidetüber das Schicksal. Bis zu welchem Ausmaß haben wir eigentlich einen freien Willen, eine Wahl? Es beeinflusst doch vielleicht schon unser Leben, ob bei unserer Geburt die Hände der Hebamme hart und kalt oder warm und weich sind. Mit meinen Büchern versuche ich zu ergründen und auszuloten, ob wir abhängig sind oder unser Schicksal selbst bestimmen können.
Können Sie mit Ihren Büchern auch Lebensläufe beeinflussen oder etwas innerhalb der Gesellschaft verändern?
Ich wünschte, das wäre möglich, und mir ist es ein großes Anliegen, für gegenseitiges Verständnis zu werben. Aber ich bin nicht naiv. In Israel gibt es zurzeit tiefe Konfl ikte, wir leben in stürmischen Zeiten. Ich vertraue auf die Zeit und hoffe, dass es irgendwann die Zweistaatenlösung gibt und dass jeder Mensch die gleiche Stimme hat. Ich halte viele Vorträge in Israel, und wenn ich nur einen einzigen Menschen überzeuge, dann bin ich schon glücklich. ||
MIRA MAGÉN: ZU BLAUE AUGEN
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer | dtv, 2017
384 Seiten | 21 Euro
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