Die abgründig schwarze Komödie »Elle« entzieht sich zuverlässig allen filmischen Kategorien. Regisseur Paul Verhoeven findet darin zur Hoch-, seine Hauptdarstellerin Isabelle Huppert zu höchst preisverdächtiger Form.
Es gibt Rollen für mutige und es gibt solche für furchtlose Schauspielerinnen. Angesichts der wieder einmal anstehenden Award-Season wird viel die Rede sein von mutigen Rollen. Viel wird auch wieder die Rede sein von mutigen Filmen: Filmen, denen man aus welchen Gründen auch immer sehr hohe gesellschaftliche Relevanz beimisst. »Elle« wird zu diesen Filmen nicht zählen, selbst wenn seine furchtlose Schauspielerin Isabelle Huppert in der Kategorie beste weibliche Hauptrolle
nominiert werden sollte, worauf im Moment einiges hindeutet.
Es gehört schon Chuzpe dazu, einen Film wie »Elle« im Jahr 2017 ins Kino zu bringen. In einer Zeit, in der vor allem in Amerika viel die Rede ist von Identitätspolitik, politischer Korrektheit und von »trigger warnings«. Triggerwarnungen, das sind Warnhinweise, die ihren Weg aus Online-Selbsthilfeforen mittlerweile in Eliteschmieden der US-Unis gefunden haben. Vorangestellt werden sie potenziell verstörenden Inhalten, um etwaigen Traumata beim Betrachter vorzubeugen.
Die erste Szene in Paul Verhoevens »Elle« ist im Grunde das glatte Gegenteil einer solchen Triggerwarnung. Sie zeigt eine Vergewaltigung. Nichts hat den Zuschauer auf diese Szene vorbereitet. Wir nehmen das Geschehen zunächst aus dem Off wahr, hören Stöhnen, zersplitterndes Glas, unterdrückte Schreie. Geschnitten wird auf den teilnahmslosen Blick einer Katze. Das Tier wohnt dem Verbrechen aus nächster Nähe bei, ohne die Flucht zu ergreifen. (»Du hättest ihm ja nicht gleich die Augen auskratzen müssen, aber irgendwas hättest du schon unternehmen können«, sagt Huppert im Anschluss zu ihrem
Haustier.)
Ein Anschlag auf Erwartungen
Später wird eben dieser schonungslose Blick dem Zuschauer zu eigen gemacht. Vorher versäumt es Regisseur Verhoeven nicht, die Prämisse seines Films zu installieren. Michèle (Isabelle Huppert) ist darin zu keinem Zeitpunkt lediglich das Opfer eines allmächtigen Täters. Und aus eben dieser Verweigerung des gerade besonders im gegenwärtigen US-Kino gängigen Opfer-Narrativs bezieht »Elle« seine große Stärke. Michèles Weg ist nicht der eines »ergreifenden Frauenschicksals«, wie ihn das Kino gerne allzu mitleidsbesoffen zeichnet. Ihr kalkulierter Feldzug gegen die eigene Ohnmacht und den maskierten Täter ist auch immer einer gegen die Erwartungen des Zuschauers. So sucht Michèle etwa keine Hilfe bei der Polizei. Das passiert jedoch nicht aus Scham heraus, sondern, so wie alles in diesem Verhoeven, den Finten des Plots zuliebe.
»Elle« ist ein genüsslicher Anschlag auf sämtliche Publikumserwartungen, was auch einen unberechenbar komischen Effekt hat. Es ist ein sadomasochistischer, vor Ambivalenzen schillernder Humor, der Liebhabern von Verhoevens Kino freilich vertraut ist, nicht erst aus Filmen wie »Basic Instinct«, »Robocop« oder auch »Starship Troopers«. Dass es sich bei letzteren um Genrefilme handelt, ist dabei kein Widerspruch. Denn »Elle« beschreibt mitnichten einen neuen sensiblen Weg im Spätwerk des holländischen Filmemachers, wie ihn manche Kritiker konstatieren. Als Auteur des Vieldeutigen bedient sich Verhoeven seit jeher schon selbstbewusst der Elemente des Genrekinos. »Elle« macht da keine Ausnahme und verhält sich doch zu seiner Abstammungslinie des Rape-and-Revenge-Kinos so distanziert und undurchsichtig wie eben jene Katze in der Eröffnungssequenz – jeden Moment könnte sie uns die Augen auskratzen. ||
ELLE
Frankreich, Deutschland, Belgien 2016 | Regie: Paul Verhoeven
Mit: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny u.a.
130 Minuten | Kinostart: 2. Februar
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