Julian Radlmaier im Gespräch über seinen neuen Film, die blaue Blume der Romantik, persönliche Abstiegsängste, Widerständigkeit und das enthierarchisierte Kino.
Julian Radlmaier, Jahrgang 1984, gehört zu den interessantesten Filmemachern der neueren Generation. Mit »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes«, seiner Abschlussarbeit an der dffb, wurde er 2017 bei der Berlinale und danach bei vielen internationalen Festivals gefeiert. 2021 folgte seine marxistische Vampirkomödie »Blutsauger«. Mit »Sehnsucht in Sangerhausen« kommt am 27. November Radlmaiers dritter Spielfilm in die Kinos. Moritz Holfelder traf den Regisseur zum Interview.
Münchner Feuilleton: Zu Beginn ertönt ein deutscher Schlager. Bianca Graf singt »Ich war schon in Berlin bei Nacht. Ich hab New York gesehen. Hab in Las Vegas durchgemacht.« Und dann landen wir plötzlich in Sangerhausen.
Julian Radlmaier: Am Anfang des Films war tatsächlich dieser Ort …
… eine kaum bekannte 25.000-Einwohner-Kleinstadt in Sachsen- Anhalt. In Ihrem Film treffen zufällig ein paar sehr unterschiedliche Menschen zusammen, die ihren prekären Alltag bewältigen müssen und sich dann Zeit nehmen, ihrer Sehnsucht nach einem besseren Leben nachzuspüren. Warum dort?
Auf Sangerhausen bin ich gekommen wegen dieser riesigen Abraumhalde, die hinter der Stadt thront, in der Form einer ägyptischen Pyramide oder des Fuji. Und dann stieß ich plötzlich auch noch auf Novalis …
Den deutschen Dichter der Romantik, jung gestorben 1801.
Ich habe herausgefunden, dass Novalis in einem Dorf bei Sangerhausen geboren wurde. Bekannt ist er vor allem für die blaue Blume, ein poetisches Sehnsuchtsmotiv. Weniger bekannt ist, dass Novalis auch als Geologe tätig war, er hat Bergbau, also Montanwissenschaft, studiert und geologische Karten der Region rund um Sangerhausen angefertigt. Als ich dann in der sogenannten Barbarossahöhle war, wo wir auch drehten, kaufte ich im Museumsshop einen kleinen Kupferstein. Der war merkwürdig blau. Da dachte ich: Ha! Blaue Blume, blauer Stein. Der Stein ist dann auch als Sehnsuchtsmotiv gleich im ersten Bild des Films zu sehen.
Sie stammen aus Nürnberg und leben heute in Berlin. Kannten Sie Sangerhausen schon vor Ihrem neuen Film?
Nein, reiner Zufall. Ich habe irgendwo ein Bild der Stadt gesehen mit dieser seltsamen Abraumhalde, und dachte: Spannend, da könnte ich mal hinfahren. Meine beiden ersten Filme sind auf dem Papier entstanden, was dazu führte, dass wir auf der Suche nach den Schauplätzen, die ich mir vorstellte, wild durch die ganze Republik gefahren sind. Nun hatte ich Lust, anders vorzugehen. Der Drehort stand also fest. Ich war fasziniert von Sangerhausen, nicht nur wegen der Halde, die von den Figuren ja auch bestiegen wird und wo sich die Jugend trifft, sondern auch aufgrund der Geschichte der Stadt und vieler Merkwürdigkeiten.
Die sind vielleicht sogar das Spannendste an dem Film.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Die Tatsache, dass sich in diesem verschlafenen Ort der angeblich größte Rosengarten der Welt befindet. Dann gibt es einen steinernen historischen Kopf, der in eine Hauswand eingemauert ist und ausschaut wie der fünfte Beatle, ein Pilzkopf, und dann ist mir ein Prospekt mit geologischen Besonderheiten untergekommen. Da wird der sogenannte Stink-Schiefer angepriesen. Man fährt in die Pampa, da liegen ein paar Steine rum, und wenn man an denen reibt, dann stinken sie ein bisschen. Das sind zwar nur Kleinigkeiten, aber ich dachte sofort: Sangerhausen ist eine eigene Welt, aus der man etwas machen kann, ein Ort, in dem Provinz, Romantik und DDR-Geschichte eine Alchemie entwickeln.
»Sehnsucht in Sangerhausen« erzählt von drei Frauen: Lotte, einer Magd, die um 1800 auf einem Schloss den Dichter Novalis bedient; Ursula, in unserer Gegenwart, die schlecht bezahlt in einem Möbelhaus putzt und danach noch in einem Café arbeitet; Neda, einer aus Teheran stammenden, jungen Frau, die ihr Glück als Reise-Influencerin versucht und in Sangerhausen Station macht. Dazu gibt es noch den aus Russland geflüchteten Sowjetkoreaner Sung-Nam, der sich bizarr lustig als Fremdenführer versucht. Wie kommen Sie auf solche Figuren?
Gleich zu Beginn hatte ich Ursula im Sinn, die Kellnerin, die wohl handfesteste Figur, die sich einsam fühlt und eine vage Sehnsucht nach einem anderen Leben verspürt. Sie verliebt sich. Da war ich inspiriert von einem Miloš-Forman-Film aus dem Jahr 1965, den ich gerade gesehen hatte, »Die Liebe einer Blondine«, in dem sich eine Arbeiterin aus der Provinz in einen Pianisten aus Prag verliebt; dann war bald klar, dass ich von einem ganzen Kosmos von Figuren erzählen möchte. Es sollte eine Erkundung der Region werden, also kam dieser seltsame Tourguide mit ins Spiel. Den spielt der Vater eines Freundes von mir, ein Laiendarsteller, der immer in meinen Filmen auftaucht.

In der sachsen-anhaltischen Kleinstadt Sangerhausen gibt es viel zu entdecken | © Grandfilm Blue Monticola Film
Wie war es bei Neda, der aus Teheran geflüchteten YouTuberin? Sie will eigentlich Schauspielerin sein, muss aber, damit ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird, in ihrem erlernten Beruf arbeiten und dreht kleine Szenen für ihren Reiseblog. Über sie kommt das Thema Migration in den Film.
Das hat mich immer sehr interessiert – und in diesem Fall wusste ich, dass ich mit einem Freund zusammenarbeiten werde, der eine ähnliche Geschichte hat wie Neda, Faraz Fesharaki, mein iranischer Kameramann. Er kam auch für ein Filmstudium nach Deutschland, da gab es also gewisse Bezüge zwischen ihm und Neda. Die YouTuberin ist zudem eine Meta-Figur, die die Abstiegsängste
eines freischaffenden Filmemachers verkörpert, meine persönliche Furcht, was eigentlich aus mir wird, wenn das mit dem Filmemachen nicht mehr klappt. Es sind viele kleine Impulse, die sich schließlich zu einer Figur verdichten.
Sie führen nicht nur Regie, sondern haben als studierter Filmwissenschaftler auch Schriften des 1940 in Algier geborenen,
französischen Philosophen Jacques Rancière übersetzt. Er beschreibt das Medium Film unter anderem als enthierarchisierten Diskurs. Ihre Filme erzählen über die von der Macht Ausgeschlossenen, über Menschen, die sich nicht zugehörig fühlen – hier die Magd Lotte, die Kellnerin Ursula, die Migrantin Neda.
Mich interessieren proletarische Figuren, und deren Begegnungen mit prekären bürgerlichen Gestalten. Was trennt sie, und was haben sie gemeinsam? Diese Fragen stellen meine Filme immer wieder. Es geht um die Idee von Gleichheit: Kann man sich auf Augenhöhe begegnen, und was steht dem entgegen? Und wie lässt sich den vom gesellschaftlichen Diskurs weitgehend Ausgeschlossenen
eine Stimme geben?
»Sehnsucht in Sangerhausen« ist kein vordergründig politischer Film, auch formal nicht. Eher heiter und poetisch. Halten Sie es mit Jean-Luc Godard, der sagte, »man muss keine politischen Filme machen, sondern Filme politisch machen«?
Total. Da gibt es eine Berührung zwischen Rancière und Godard. Rancière sagt, und das hat dann eben auch mit Godard zu tun, die Form an und für sich, die Erzählung selbst, soll enthierarchisiert sein. Beim klassischen Drama, beim Heldenepos, gibt es klare Hierarchien der Figuren und des Plots. Enthierarchisierung bedeutet also auf der mikropolitischen Ebene der Form, dass
man das Unbedeutende, das Nebensächliche, die kleinen poetischen Momente in den Vordergrund stellt. Die Wahrnehmung, das Denken der Zuschauer wird so anders herausgefordert.
Wie schwer ist es, solche ästhetischen Konzepte, die politisch unterfüttert sind, in der wirtschaftlich orientierten Filmbranche durchzusetzen?
Naja, ich mache Filme in dem hierarchischen System, in dem wir nun mal leben, und in dem es um Geld geht. Wir müssen Leute bezahlen und so weiter. Auf eine Art und Weise versuchen wir, das zu brechen, also nicht den Standardproduktionen zu entsprechen, wo Ultra-Top-Down-Hierarchien herrschen, sondern wir etablieren beim Drehen ein Gefühl von Gemeinschaft und Freundschaft.
Zur Enthierarchisierung der Form – es gibt in Ihrem Film viele überraschende Schwenks und Zooms, die wirken, als würde der Kameramann intuitiv etwas zeigen wollen, was eigentlich gar nicht im Bild sein sollte, so, als sei er es, der plötzlich Regie führen würde, etwa, wenn zwei nackte Geister durch den Wald laufen oder der blaue mythische Stein plötzlich auf einem Mülleimer neben ausgedrückten Zigarettenstummeln wieder auftaucht.
Mir gefällt das Prinzip des Abschweifens, man kann auch mal nach rechts oder links gucken. Es gibt eine Textur des Überraschenden, der Möglichkeit, der Leichtigkeit, der Schönheit. Darin steckt eine große Energie der Widerständigkeit.
Eine fröhliche Utopie?
Die Welt ist deprimierend genug, mir geht es um ein spielerisches Verhältnis zur oft erdrückenden Realität. Das war auch das Prinzip von legendären Komikern wie Buster Keaton oder Charlie Chaplin: eben das kleine unbeholfene Schwache gegen das erdrückende große Starke in Szene zu setzen. ||
SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN
Deutschland 2025 | Buch & Regie: Julian Radlmaier
Mit: Clara Schwinning, Maral Keshavarz, Henriette Confurius,
Paula Schindler | 90 Minuten | Kinostart: 27. November
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