Edgar Reitz setzt mit »Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes« nicht nur dem großen Erfinder und Philosophen ein Denkmal.
Es ist die »Chronik eines verschollenen Bildes«, die der große Filmphilosoph Edgar Reitz seinem Publikum diesmal präsentiert. Reitz’ Faible für Chroniken ist bekannt, spätestens seit der »Heimat«, die als »Chronik einer Jugend« Furore machte. Nun also das so erhellende wie unterhaltsame Kammerspiel (Co-Regie: Anatol Schuster) um Leibniz und das Spiel mit dem Licht.
Aus dem Schwarz tritt 1704 Königin Charlotte, eine junge, leidenschaftliche Frau, die bei Leibniz das Denken gelernt hat. Sie liebt den sehr viel älteren Mann, der ihr das Gegenteil zum oberflächlichen Hofalltag bedeutet. Reitz spielt mit den Sinnen des Zuschauers: Man sieht der intellektuell unterforderten Charlotte beim Denken zu, während die unsichtbare Feder übers Papier – ein Brief an Leibniz – kratzt. Königinmutter Sophie (Barbara Sukowa) seufzt aus dem Off ob der ungewöhnlichen geistigen Bedürfnisse ihrer Tochter und ordert den erfolgreichen Hofmaler Delalandre (Lars Eidinger), dass er der Tochter den Leibniz male, um ihr zumindest bildlich nahe zu sein.
Leibniz (Edgar Selge) kommt nach Schloß Herrenhausen, wo er die berühmten Gärten entworfen hat. Delalandre will nach seinem üblichen Muster arbeiten, aber Leibniz zweifelt deutlich daran, dass die Malkunst die Einmaligkeit einer bzw. seiner Person erfassen kann. Delalandre will einen »neutralen« Gesichtsausdruck, Leibniz unterdrückt einen Lachanfall. »Möglichst an gar nichts denken«, empfiehlt der Maler – für einen professionellen Denker kaum möglich. »Amouren führen zu einer Visage ohne Männerwürde«, mahnt der Porträtist. Leibniz verweigert die Perücke, verwickelt den Maler in eine Diskussion über Farbe und Maskerade, Wahrheit und Ähnlichkeit, das Abbild und das Ich, Sein und Repräsentanz. Delalandre bricht die Zusammenarbeit mit Leibniz ab.
Der nächste Maler, den Charlottes Mutter Sophie engagiert, kommt aus Delft und ist eine Frau. Aaltje van de Meer (Aenne Schwarz) ist nicht weniger eigensinnig als Delalandre, aber sie bringt Leibniz zum Sprechen. Dafür wird sie selbst im Filmbild zum Gemälde (virtuose Kamera: Mathias Grunsky). Es geht immer vom Dunkeln ins Licht, erklärt sie im wunderbaren niederländischen Singsang: So sollten wir leben und möglichst entlang der Wahrheit. Jeder Mensch hat ein Fenster. Leibniz diskutiert mit ihr über Gott und die Übel der Welt: Gäbe es das Übel nicht, gäbe es die Freiheit nicht; und ohne die Freiheit wäre die Welt nicht die beste aller möglichen!
»Wollen wir ein wenig miteinander denken?«, lädt er die Malerin ein. Mir macht das Nichtwissen Angst, sagt Leibniz. Mir macht das Nichts Angst, entgegnet van de Meer. Was ich nicht weiß, kann ich malen. Damit macht sie Leibniz sprachlos. Punkt und Sieg! Gleichzeitig findet sie mithilfe des Assistenten Liebfried Cantor (Michael Kranz) das beste Licht für Leibniz. Cantor berichtet ihr von den Erfindungen des Meisters: Sprungschuh, Luftmatratze, U-Boot, Feuerwehrspritze, Feuerversicherung, Klappstuhl, Rechenmaschine und vieles mehr.

Leibniz (Edgar Selge) und seine Malerin Aaltje van de Meer (Aenne Schwarz) | © Ella Knorz
Van de Meer beschließt, dass ein Licht zu wenig sei und beleuchtet Leibniz also von zwei Seiten, mithilfe eines Spiegels, in dem sie Charlotte selbst platziert. Wir brauchen den Körper, damit der Geist das Licht berühren kann, sagt Leibniz, der seine Gicht mit einer Schmerzzwinge überwinden will. Leider gibt es keine Schmerzzwinge für die Seele! Ich habe als Philosoph begonnen und ende als Theologe. Charlotte stirbt an ihrer Erkältung, van de Meer zerstört das fast fertige Gemälde von Leibniz im Licht und malt ein neues Bild in nur einer Nacht. Dieses Bild ist das verschollene, und zu gern würde man wissen, was es zeigt. Reitz dreht es nicht um. So wird nicht nur Leibniz für immer geheimnisvoll unsterblich.
Reitz/Leibniz feiern mit der jungen Malerin van de Meer ein Fest des Lichts, untermalt von der aufregend verbindenden Musik des Münchner Komponisten Henrik Ajax, der als regelmäßiger Akteur in der Neuen-Musik-Szene bekannt ist. Co-Autorin und Sängerin Salome Kammer ist als strenge Hofdame mit im Filmbild. Der inzwischen 92-jährige Reitz erzählt auf vielen Ebenen im Schulterschluss mit seiner Hauptfigur und mit der Leichtigkeit des Grandseigneurs, worauf es ankommt: auf die Notwendigkeit der lustvollen Bildung, die allein zu universellem Glück und Frieden führt.
LEIBNIZ – CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES
Deutschland 2025 | Regie: Edgar Reitz, Anatol Schuster
Drehbuch: Gert Heidenreich, Edgar Reitz | Mit: Edgar Selge, Lars Eidinger, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Antonia Bill, Michael Kranz | 104 Minuten | Kinostart: 18. September
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