Ist Religion ein Hort der Vernunft? Thomas Kiefer traf Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, zum Gespräch.
Reinhard Kardinal Marx ist seit 2008 Erzbischof von München und Freising. Der 71 Jahre alte katholische Geistliche wurde 1996 zum Bischof geweiht und 2001 von Papst Johannes Paul II. zunächst zum Bischof von Trier berufen. Der Deutschen Bischofskonferenz stand Marx von 2014 bis 2020 als Vorsitzender vor. Unter Papst Franziskus arbeitete er in verschiedenen wichtigen Gremien des Vatikans. Im Zuge des Missbrauchsskandals bot Marx dem Papst seinen Rücktritt als Erzbischof an, um Verantwortung für eingeräumte Versäumnisse zu übernehmen, was dieser jedoch ablehnte. Kardinal Marx ist Autor zahlreicher Bücher zu Wesen und Krise von Kirche und Christentum.
Münchner Feuilleton: Herr Kardinal, wir stehen in einem bewegten Jahr. Kirchlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch. Das löst doch einige negative Energien aus – Sorgen, Beängstigung, Verwirrung. Können Sie das noch gelassen hinnehmen?
Kardinal Marx: Gelassen nicht. Als Christ trägt mich jedoch die Hoffnung, dass es auch wieder positiv nach vorne geht. Sorge bereitet mir der Zustand der Demokratie. Die kirchliche Situation ist ebenfalls nicht einfach, aber wir gewinnen langsam Übung darin, dass sich die Kirche in einer säkularisierten Welt transformiert. Da beunruhigt mich höchstens, wenn wir es vielleicht nicht beherzt genug anpacken oder mutlos herumjammern. Darin läge keine Zukunft. Und weltpolitisch – da haben wir uns getäuscht: Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger glaubten wir noch, jetzt lösen sich die alten Schablonen und Blöcke auf und die internationalen Institutionen brächten eine Art »Weltinnenpolitik« in Gang, internationale Zusammenarbeit und neues Vertrauen entstünden. Diese Hoffnung ist zerstoben. Und: Wir haben bei uns, in Teilen der Europäischen Union und auch weltweit einen Trend zum Autoritären.
In Krisenzeiten hatten die Religionen immer Hochkonjunktur und die Menschen haben dort Trost und Hoffnung gesucht.
Eine solche Sicht wäre zynisch. Es geht doch nicht um ein Konjunkturprogramm für die Institution Kirche, es geht um die Menschen! Wir stehen ganz besonders in der Pflicht, uns einzusetzen: Für die unter Angst, Gewalt und Not Leidenden – und für Frieden, Demokratie, Freiheit. Religion wird zu oft instrumentalisiert und für politische Zwecke missbraucht. Denken Sie an Putin und Patriarch Kyrill oder an die Radikalisierungen in den evangelikalen Strömungen auf dem amerikanischen Kontinent oder im Islam. Und das findet Zuspruch. Es ist nicht so, dass die Religion weltweit verschwindet. Sondern sie wird neu benutzt.
Ihr jüngstes Buch ist mit dem Titel »Kult« überschrieben. Der Begriff war mal für die religiöse Handlung reserviert. Aber heute ist alles mögliche Kult – die Löwen von 1860, Kocherlball am Chinesischen Turm, Weißwurst am Heiligen Abend. Weshalb dieser Titel? Rückbesinnung auf Wesentliches?
Ich will damit provozieren. Die Kirche kümmert sich um Bildung, sie sorgt fürs Karitative, sie mischt sich in öffentliche Diskussionen ein, versucht Werte zu vermitteln in Fragen des Zusammenlebens im Staat und im persönlichen Umfeld. Alles richtig und nützlich. Aber wo kommt das her? Was ist der Kern? Ich bin überzeugt: Eine Kirche, die keinen Kult hat, ist überflüssig. Das Christentum ist kein System von Sätzen und Vorschriften. Es ist die Begegnung mit einer Person und ein Fest mit einer kultischen Feier, in der sich Himmel und Erde berühren. Für Christen ist das eine Gemeinschaft zwischen Jesus Christus und den Menschen. Am Anfang steht dieser Kult, dieses Fest, die Eucharistiefeier! Daraus folgen erst all die anderen Punkte. Wenn der Kult abgeräumt wird – und solche Phasen beobachten wir seit der Französischen Revolution – entsteht ein leerer Raum in unserer Gesellschaft. Wir beobachten derzeit, dass versucht wird, diesen zum Beispiel mit Nationalismus und Identitätsfantastereien zu füllen.
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