In zeitloser Tanzsprache widmet sich der Ballettabend »Schmetterling« Aspekten der Vergänglichkeit.

Schmetterling

Elegische Bilder

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Laurretta Summerscales und Robin Strona in »Schmetterling« aus dem gleichnamigen Abend »Schmetterling« von Sol Leon und Paul Lightfoot | © Carlos Quezada

Solch frenetischen Jubel hat man bei einer Ballettpremiere in der Bayerischen Staatsoper seit Jahren nicht erlebt. In einer gigantischen Begeisterungswelle hob es die Zuschauer aus den Sitzen. Belohnt wurde ein Ballettensemble, das mit faszinierender Selbstverständlichkeit vertrackteste choreografische Finessen nicht nur gemeistert, sondern in grandios selbstverständlichem Fluss gehalten hat. Wer ließe sich da nicht gern mitreißen? Anlass war der zweiteilige Ballettabend mit Stücken des seit mehr als 30 Jahren mit dem Nederlands Dans Theater engstens verbundenen Choreografen-Paares Sol Leon und Paul Lightfoot. Mit »Silent Screen« und »Schmetterling«, uraufgeführt in den Jahren 2005 beziehungsweise 2010, hat sich das technisch brillante Ensemble des Bayerischen Staatsballetts gleichsam freigetanzt. Statt latentem Konkurrenzdruck überträgt sich nun die Selbstsicherheit jedes einzelnen Tänzers, sich aufgehoben zu fühlen in einem intakten Ensemble.

Solcher Wandel ist zweifellos dem Ballettchef zu danken, der maßgeblich auch für die Stimmung im Ballettsaal verantwortlich ist. Laurent Hilaire, selbst einst Ballerino höchsten Grades an der Pariser Oper, sorgt, seit er zur Spielzeit 2022/23 Igor Zelensky folgte, offenbar für eine entspannte Atmosphäre. Das Programm, und damit auch der zeitgenössische Beitrag im Frühjahr, war allerdings für diese Spielzeit von seinem Vorgänger schon fest gebucht. Mit Sharon Eyals »Bedroom Folk«, kreiert 2015 fürs Nederlands Dans Theater, hatte Zelensky für München einen Knaller eingekauft, der das Publikum elektrisierte. Im NDT traf er auch auf Sol Leon und Paul Lightfoot und lud sie ein, mit dem Bayerischen Staatsballett die oben genannten Stücke einzustudieren.

Wegen ihrer sehr gegensätzlichen Temperamente und der sehr grundverschiedenen künstlerischen Basis muss sich das Paar seit mehr als drei Jahrzehnten bei jedem Stück eine gemeinsame hochkomplexe Bühnensprache neu erstreiten. Was dabei herauskommt, lässt sich künstlerisch am wohl besten unter dem Rubrum »gemäßigte Moderne« einordnen. Beide sind begabt mit einer außergewöhnlichen Sensibilität für oszillierende Stimmungslagen, die sie in komplexe Bewegungsfolgen umsetzen. Bei einer Einführungsmatinee in der Staatsoper zum aktuellen Programm rührten sie mit den entsprechenden Tanzbeispielen zu Tränen.

Die ausgewählten Stücke aber, deren Titel wie alle Leon/Lightfoot-Kreationen mit dem Buchstaben »S« beginnen, aber waren zuvor noch nie zusammen gezeigt worden. Bei der Aufführung versteht man, warum. Auch wenn fünf Jahre dazwischen liegen, so ähneln sich beide Choreografien doch stark in ihrer melancholischen Grundstimmung und Form. Der reine Tanz wie auch Familienszenen im Freien ereignen sich als Video oder live vor einer Leinwand. Das erste Stück, »Silent Screen«, beschreibt die sehr private Entwicklung ihrer Beziehung, und das zweite, »Schmetterling«, hat das Altern und den Tod zum Thema. »Silent Screen« wird, wohl als Äquivalent zum Tempo bewegter Stummfilmbilder, vorangetrieben von den enervierend orgelnden Stücken aus »Glassworks« des Minimal-Komponisten Philip Glass, die man vor 40 Jahren vielleicht mal ganz toll fand. »Silent Screen« also blättert im persönlichen Album des Paares Leon/Lightfoot, blendet etwa wiederholt das mit den Jahren entfärbte Foto der eigenen Tochter ein, als sie sechs Jahre alt war: als Exempel für das eigene Altern. Auch in »Schmetterling«, inspiriert von Schuberts Streichquartett »Der Tod und das Mädchen«, schwingt solche Wehmut über die Vergänglichkeit des Lebens mit in den bewegten Bildern. Und all dies in Fortschreibung der zeitlosen, elegischen Modern-Dance-Sprache, wie sie am NDT dank des
langjährigen Leiters Jiri Kylian Tradition hat. Kylians Stücke sind zeitlos als Spiegel der Seele auch dank ihrer beispielhaften Lakonie. Die beiden Leon/Lightfoot-Stücke hingegen wirken seltsam angejahrt, kranken an ihrer Redundanz und sind mit jeweils 45 Minuten einfach zu lang. Aber wie das getanzt ist, das reißt einen eben vom Hocker. ||

SOL LEÓN / PAUL LIGHTFOOT: SCHMETTERLING
Nationaltheater | 2./3., 28. Juni; 3. Juli, jew. 19.30 Uhr | Einführung: 2., 28. Juni und 3. Juli, 18.30 Uhr, Vorraum Königsloge | empfohlen ab 14 Jahren (erm. Tickets: 089 21851920)

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