Ein Porträt des israelischen Autors Yishai Sarid, der mit seinem neuen Roman »Chamäleon« ein tiefgründiges Porträt der aktuellen Gesellschaft in Israel geschaffen hat.

Foto: Katarina Ivanisevic

Yishai Sarid ist ein ruhiger, nachdenklicher Mann. Bei meinem ersten Interview mit dem israelischen Autor war das Land gerade von den Protesten gegen die geplante Justizreform wie elektrisiert. Wir hatten uns verabredet, um über seinen Roman »Schwachstellen« zu sprechen, der gerade auf Deutsch erschienen  war. Darin geht es um die moralischen Konflikte eines jungen, talentierten israelischen Hackers, der sich in seinem ersten Job in der lukrativen Cybersecurity-Branche zunächst willfährig den Anordnungen seines Chefs fügt, im Verlauf der Handlung aber zu einer Schwachstelle im System wird.

Wir sprachen über Sarids literarisches Werk und sein Selbstverständnis als Autor. Und natürlich auch viel über Politik: etwa über den Messianismus der mächtiger gewordenen religiösen Rechten in Israel und ihre Fantasie, einen dritten jüdischen Tempel in Jerusalem zu erschaffen, was Sarid bereits 2018 in seinem dystopischen Roman »The Third« aufgegriffen hatte. Thema war auch der Versuch von Premierminister Netanjahu und seinen religiösen Partnern, die schon lange bestehenden politischen und gesellschaftlichen Gräben in Israel zu ihren Gunsten zu nutzen, um, wie Sarid es formulierte, »den Staat und die Gesellschaft nach ihren religiösen, nationalistischen und rassistischen Vorstellungen umzubauen«. Das war kurz vor dem 7. Oktober 2023 – und allem, was danach kam. Weil sich der Terrorangriff der Hamas sofort wie ein Bruch anfühlte und unmittelbar für so viel Chaos sorgte, entschieden wir uns, das Interview nicht zu veröffentlichen.

Schon damals prangte hinter Sarids Schreibtisch in einem großen Fahnenständer die blau-weiße Flagge Israels. »Als Bürger und Patriot fühle ich mich mitverantwortlich für alles, was wir in Israel tun – selbst, wenn ich es als Linker kritisiere oder ablehne«, sagt Sarid. Aus dieser Haltung heraus schreibe er seine Geschichten, die allesamt in Israel spielen und stets moralische Fragen stellen – ohne zu predigen oder selbstgerecht mit dem Finger auf andere zu zeigen. »Wir alle müssen moralische Kompromisse eingehen. Als Autor versuche ich, mich in meine Charaktere hineinzuversetzen, selbst wenn sie alles andere als sympathische Figuren sind«, so Sarid. Bei einem seiner beeindruckendsten Romane, »Siegerin«, hatte Sarid dafür scharfe Kritik auch aus der politischen Linken Israels erhalten. Der Vorwurf: Wie könne er es wagen, eine Protagonistin zu porträtieren, die sich als Militärpsychologin beruflich mit dem Töten beschäftigt und dafür eine persönliche Faszination entwickelt? »Aber es gibt doch einen klaren Unterscheid zwischen Literatur oder Op-Eds in der Zeitung, wo Du natürlich mit dem Finger auf Leute und ihre Versäumnisse zeigen musst«, betonte Sarid. Als äußerst politischer Mensch sei er davon überzeugt: »Manchmal muss es allerdings auch eine klare Unterscheidung zwischen richtig und falsch geben.« Diese Haltung sei auch in seinen Romanen »deutlich erkennbar«, doch als Literat gehe es ihm vor allem um das Subtile, die Nuancen und die Komplexität von Menschen.

Yishai Sarid kommt aus einer sehr politischen Familie. Sein Vater, Yossi Sarid, war in den 1990ern unter der ersten Netanjahu-Regierung unter anderem Oppositionsführer für die linksliberale Partei Meretz. Später war er als Minister im Kabinett von Yitzhak Rabin, der für seine Bemühungen für Frieden mit den Palästinensern von einem rechtsextremen Israeli ermordet wurde. »In der Öffentlichkeit sprach mein Vater sehr pointiert und oft auch unversöhnlich. Er trat tapfer für Frieden ein. Als Familie haben wir daher regelmäßig Drohungen erhalten – Graffitis an unserer Wohnung etwa oder offene Beleidigungen auf der Straße«, erinnert sich Sarid. Vor seiner Karriere als Autor arbeitete Sarid als Nachrichtenoffizier und Staatsanwalt. »Alle meine Bücher haben eine sehr persönliche Ebene, aber hier in Israel ist das Persönliche ohnehin untrennbar mit dem Politischen und dem Nationalen verknüpft«, erzählt er. Im Roman »Monster« etwa geht er über die Geschichte eines israelischen Tourguides in Auschwitz der Frage nach, wie die Israelis mit dem Holocaust umgehen und was die aktuelle Art des Erinnerns mit ihnen macht. »Siegerin« thematisiert Elternschaft in Israel und die Haltung von Eltern zur Armee. Heute ist sich Sarid sicher: Beide Romane würden dabei helfen zu verstehen, wie sich die israelische Gesellschaft infolge des 7. Oktober entwickelt hat.

Bereits vor dem Hamas-Angriff hatte Sarid mit der Arbeit an seinem Roman begonnen, der dieser Tage auf Deutsch erschienen ist. »Chamäleon« spielt in der Gegenwart und endet wenige Wochen nach dem 7. Oktober. Zu dieser Zeit war die militärische Reaktion Israels für Sarid noch eine notwendige Maßnahme zur Selbstverteidigung und Abschreckung gegenüber Todfeinden wie der Hamas, der Hisbollah im Libanon und dem iranischen Regime. Die Fortführung und Intensivierung des Gaza-Krieges bis heute bewertet Sarid aber als zynisches Instrument von Premierminister Netanjahu zum eigenen Machterhalt – zum Preis des unmenschlichen Leids der Zivilbevölkerung in Gaza.
»Chamäleon« erzählt vom Erfolg des Rechtspopulismus in Israel und einem Journalisten, der seine Seele für Ruhm, Anerkennung und die Nähe zur politischen Macht verkauft. Sarids Sittengemälde eines großen Teils der israelischen Gesellschaft – für das besonders verdichtet der Netanjahu nachempfundene korrupte, machthungrige Premierminister und seine Entourage stehen – ist keine verbitterte Abrechnung eines enttäuschten Linken, dessen Positionen im eigenen Land nicht mehrheitsfähig sind. »Chamäleon« ist vielmehr ein differenziertes, empathisches und tiefgründiges Porträt einer Gesellschaft, die sich politisch stark nach rechts entwickelt hat.

Was aber gibt einem humanistischen Linken wie Yishai Sarid Hoffnung? Im Roman sind das zum Teil Figuren wie Shai Tamus Ehefrau Alona und ihre Tochter, die etwa an den großen Protesten gegen die illiberale Justizreform der Netanjahu-Koalition teilnehmen. Heute richten sich die Demonstrationen gegen die Fortführung des Krieges und für die Freilassung der israelischen Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft. Sarid selbst nimmt regelmäßig an diesen Demonstrationen teil und hält dort Reden. Doch es ist Sarid bei dem Gespräch, das wir Mitte September geführt haben, anzumerken, wie schwer es ihm fällt, positiv in die Zukunft seines Landes zu blicken.

Sarids nächster Roman wird von zahlreichen »positiven und bewundernswerten Personen« handeln, verrät er. Die Geschichte drehe sich um einen Arzt. Sicher wird auch dieses Buch wieder ein leiser, nachdenklicher Roman, der gerade im polarisierten internationalen Diskurs zu Israel und Palästina heraussticht. Sarid stellt Fragen, versetzt sich in andere Menschen hinein, versucht, das Eigene zu verstehen – und verschließt dabei nicht die Augen vor den menschlichen Abgründen. Genau das macht Yishai Sarids Geschichten zu politischer Literatur im besten Sinne. ||

Redaktionsschluss des Textes: 19. September 2025

YISHAI SARID: CHAMÄLEON
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, 2025 | 287 Seiten | 25 Euro

 


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