Mit »Heaven’s Gate«, einer Raumzeichnung aus Draht, schließt die Künstlerin Brigitte Schwacke eine kriegsbedingte Wunde in der Kirche St. Paul.
Jahrzehntelang bekannte man sich in St. Paul zur Lücke: Die Spuren der Zerstörung der neugotischen Kirche an der Theresienwiese waren in den Jahren nach dem Krieg beseitigt worden, nur im Treppenaufgang zur Kanzel im Mittelschiff klafft eine Wunde, die man in Erinnerung an die Bombennacht beließ. Der zerstörte steinerne Torbogen wie auch das steinerne Geländer des Architekten Georg von Hauberrisser wurden nicht wieder rekonstruiert. Achtzig Jahre nach Kriegsende hat die Künstlerin Brigitte Schwacke nun die Bruchstelle symbolisch geschlossen, das neugotische Treppenportal mit einer künstlerischen Intervention aus messingfarbenem Aluminiumdraht nachempfunden und im Zuge dessen auch den Aufgang zur Kanzel mit einem Treppengeländer aus Stahl versehen. Die Münchner Bildhauerin (*Marl 1957) ist mit ihren dreidimensionalen Raumzeichnungen aus feinem legiertem Draht bekannt, die – wie beispielweise ihre kosmisch anmutenden schwebenden Geflechte – zwischen definiertem und offenem Raum, viel Volumen und wenig Masse, Statik und Bewegung, Gegenstand und Abstraktion und letztlich Geist und Materie changieren.
Obwohl die Installation in St. Paul die Handschrift ihres bisherigen Werks trägt, hat Brigitte Schwacke mit »Heaven’s Gate« Neuland betreten. Es war ein jahrelanger Prozess von der ersten Idee bis zur Vernissage, von ersten zeichnerischen Skizzen und der Simulation an einem 3-D-Modell über die monatelange handwerklich anspruchsvolle Fertigung mit der Rohrzange und die häufige Feinabstimmung und Anpassung an die Situation vor Ort, bis hin zu komplizierten Anbringung des fertigen Objekts in der Kirche, ein Prozess, bei dem etliche schwierige Entscheidungen getroffen und baulich bedingte Hürden genommen werden mussten. Jetzt sieht man dem filigranen, transparenten und im Licht der Seitenfenster schillernden, messingfarbenen Geflecht, das sich wie selbstverständlich in die Lücke fügt, die Bruchstelle spiegelt und wie ein gotisch anmutender Spitzbogen über dem Treppenaufgang aufsteigt, die zurückliegende Anstrengung nicht an.
Es ist Brigitte Schwacke gelungen, die ursprüngliche Architektur mehr frei zu interpretieren als nachzubilden. Sie hat einen gebrochenen Messington für ihren Aluminiumdraht gewählt, der sowohl einen fernen Anklang auf das Gold der Seitenaltäre liefert und damit in eine spirituelle Sphäre verweist, als auch mit den dominierenden bronzenen Gittern der Heizungsschächte eine ästhetische Verbindung eingeht. Die Umrisslinien der Raumzeichnung scheinen beim Betrachten zu verschwimmen, so dass sich wie bei einer ephemeren Erscheinung Unschärfen einstellen. Das fragmentarische Zitat des Torbogens blitzt wie ein Stück schemenhafter Erinnerung auf. Brigitte Schwacke hat sich entschieden, die offenen Enden des Drahtes wie bei vielen anderen ihrer Objekte wie Tentakel stehen zu lassen, einmal um eine Verbindung zum Raum herzustellen, aber auch um so auf das Unabgeschlossene des Erinnerungsprozesses zu verweisen: »In all meinen Arbeiten ist das Prozesshafte sichtbar, alles bleibt Fragment, bleibt offen. Es sind Annäherungen an das Ungefähre, das Unfassbare. Die Welt wird nicht als feste Setzung gesehen, Leben ist eine fragile Konstruktion, ständig einer Veränderung unterworfen, von einem auf den anderen Tag kann alles anders sein.«
Der künstlerische Eingriff macht die architektonische Wunde sichtbar, die kriegsbedingte Zerstörung wird ästhetisch lebendig gehalten. Der Auftrag für die Arbeit kam unter idealen Bedingungen zustande, Ideen trafen zum richtigen Zeitpunkt zusammen: Der Wunsch der Kunstpastoral von St. Paul und ihrem Leiter Ulrich Schäfert, etwas mit der Kriegslücke zu machen, und der Wunsch von Brigitte Schwacke, für die Kirche ein gotisch inspiriertes Objekt aus Draht zu entwickeln. Dank des jahrelangen großen Engagements der Kunstpastoral, zeitgenössische Kunst sowohl temporär als auch dauerhaft im Kirchenraum zu installieren, erklärte sich die Erzdiözese München und Freising bereit, den Auftrag zu erteilen, und zusätzlich zu den Holzreliefs von Rudolf Wachter und der Videoinstallation von Stefan Hunstein die neue bildhauerische Arbeit »Heaven’s Gate« von Brigitte Schwacke fest in St. Paul zu installieren.
Wer mehr Arbeiten von Brigitte Schwacke kennenlernen will, hat jetzt Gelegenheit dazu: Mit Beginn der Open Art Munich sind dreidimensionale Raumzeichnungen sowie Drahtarbeiten auf Papier in einer Ausstellung im Kunstraum Leeb/Becker zu sehen. ||
BRIGITTE SCHWACKE: »HEAVEN’S GATE«
Kirche St. Paul | St.-Pauls-Platz 11 | täglich 8.30–17 Uhr | Eintritt frei
BRIGITTE SCHWACKE / ERNST WILD
Atelier Ernst Wild – Kunstausstellungen
Leeb/Becker | Wilbrechtstr. 83 |
bis 20. Juli | Fr 17–20 Uhr,
Sa, So 15–18 Uhr | Eintritt frei
Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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