Zwei Wochen lang hat das Festival aDevantgarde den Begriff der Schönheit
musikalisch seziert – mal kristallin, mal absurd, mal hochpoetisch. Von festlichen Rülpsern bis Vogelkunde: Neue Musik zeigt sich als lebendiges Denkabenteuer.
Wer Musik schreibt, möchte schöne Musik schreiben. Das ist das offene Geheimnis, das nach zwei Wochen aDevantgarde-Festival noch offener liegt. Zwei Wochen lang wurde das Festival-Motto „Schönheit“ befragt, bestätigt, bewusst unterlaufen und vor allem in faszinierenden musikalischen Ereignissen ausgeformt – zwischen der kristallinen Schönheit der Avantgarde-Klassiker und den gebrochenen, facettenreichen Schönheiten der zahlreichen Uraufführungen.

Vokalzirkel; Foto: Jakob Schad
Röcheln, Stöhnen, Rülpsen. Das Ensemble Vokalzirkel legt sich ins Zeug, um dem Neue-Musik-Fest mit ihrem Auftaktkonzert den nötigen Anschub zu geben. Es gelingt fantastisch. Die Luft steht zwar dampfig im Saal der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Und weit öffnen möchte man die Fenster nicht, denn vom Max-Joseph-Platz schweben die Festklänge der frisch eröffneten Stufenbar der Staatsoper nach oben. Doch beirren lässt sich das Ensemble unter Johannes X. Schachtners Leitung nicht. Mit zwei Sätzen aus Caroline Shaws Partita lässt es einen Sog entstehen, dem sich das Publikum nicht entziehen kann. Junge, energiegeladene Stimmen in perfekter Balance, wie auch Schachtners „Amour de la Mante“ illustriert.
Auch einer der beiden Festival-Leiter, Markus Lehmann-Horn, steuert ein Werk bei, sensible, strömende Klänge zu Zeilen von Anne Martin. Dass das Ensemble nicht nur gut zu phrasieren versteht, zeigt der selten gehörte Klassiker „a-ronne“ des Jubilars Luciano Berio. Neben diversen Geräuschen, die man sich am Esstisch verbitten würde, bieten die acht Vokalisten eine phänomenale Interpretation des vielschichtigen Textes mit Worten etwa von Edoardo Sanguineti, Dante und Marx/Engels. Absurde Schönheit, die begeistert und mit dem Stück „Fix me!“ der jungen Komponistin Eva Kuhn korreliert. Auch Kuhn weist auf Absurdes hin – die alltägliche Manie, sich im Foto-Zeitalter an der Optik der Anderen zu messen. Das Publikum zeigt sich authentisch begeistert.

Quasar Saxophon Quartett; Foto: Marie Lassiat
Nach Konzerten, in denen sich die Profis von der/gelbe/klang und die Gründer-Generation des Festivals über die hellen und dunklen Seiten des Schönheits-Begriffs austauschen, zeigen die Jungen, was sie davon denken. Und das nicht zum ersten Mal. Denn JU[MB]LE, das Jugendensemble für Neue Musik Bayern, feiert Geburtstag. Vor zehn Jahren haben sich der zweite Festival-Leiter, Alexander Strauch, und Johannes X. Schachtner zusammengetan, um junge Leute im Ensemblespiel für zeitgenössische Musik zu begeistern. Seither treffen sich jährlich zehn bis fünfzehn Begabte in der Alteglofsheimer Musikakademie, um ein möglichst vielfältiges Programm zu erarbeiten. Das Ergebnis präsentiert JU[MB]LE im Schwere Reiter. Darunter sind die schimmernden Klänge von Pierre Boulez’ „Dérive“, die dunkle Dramatik von Wolfgang Rihms „Blick auf Kolchis“ oder die erstaunlich konsonanten Linien, mit denen Grace-Evangeline Mason „The Beauty of Decay“ beschreibt.
Bei alldem ist JU[MB]LE so wie ein junges Ensemble sein sollte: präsent, wandlungsfähig, konzentriert, mit Spielfreude bei der Sache. Besonders das Auftragswerk, Markus Schmitts „Six taxonomic Sketches“ nach dem „Emporio celestial de conocimientos benévolos“ – eine fiktionale biologische Taxonomie des argentinischen Prosa-Magiers Jorge Luis Borges – bietet dafür eine Bühne. Ausgestattet mit Perkussionsinstrumenten, Vogelpfeifen und unkonventionellen Spielweisen zeigt JU[MB]LE, wie lebendig Neue Musik ist. Ein Wiedersehen mit ehemaligen JU[MB]LE-Mitgliedern bietet das Folgekonzert von JU[MB]LEX. Ebenfalls unter Schachtners Leitung spielen die Ehemaligen, deren Feuer für Neue Musik nach der entscheidenden Zündung in Alteglofsheim nach wie vor brennt. Auf dem Programm stehen einige Auftragswerke der letzten Jahre, so das Klavierkonzert von Stefan Schulzki, in dem der Uraufführungspianist Vincent Neeb auch Jahre später noch brilliert als unermüdlicher Motor des effektiven Stücks.

Foto: Sirus-W.-Pakzad
Nach dem Konzert des Münchner Kammerorchesters bildet das Quebecer Saxophonquartett die Basis des Schlussdreiklangs aus Quasar-Quartett, dem Duo Brigitte Helbig und Kai Wangler und dem ironisch-schönen Isarmärchen. Der Besuch des Quartetts ist ein Gegenbesuch. Im vergangenen Mai waren Münchner Komponierende in Kanada, jetzt kommt das kleine Ensemble nach München und hat seinerseits Komponisten mitgebracht. In sechs völlig unterschiedlichen Werken zeigt es die Vielseitigkeit des Instruments und der beteiligten Akteure: die massive Poesie von Maxime McKinleys „Dolmen“, die strahlenden, beweglichen Klänge von Abigél Vargas „Four Days, Four Nights“, die jazzig extrovertierte Suite von Francis Battah, die fragilen Töne in Alexander Strauchs „Un soir“ nach Rimbaud, die subtilen Kombinationen in Florence Tremblays „Vapeurs taillées“ und die untergründige Spannung in Philipp C. Mayers „Songs from the Basement“. Mit bewundernswerter Flexibilität stellt sich das virtuose Quartett auf den Werkcharakter ein, macht so aus dem Programm ein Neue-Musik-Klangtheater in sechs Sätzen.

Brigitte Helbig und Kai Wangler; Foto: A. Ackermann_Collage S. Bohnet
Nicht ohne Grund leitet es die Schlusstrilogie ein. Im Quasar-Konzert wird auch deutlich, welche Schönheit in der Begegnung von Leuten liegt, die sich für dieselbe Sache begeistern. Hier werden Verbindungen gefeiert, die auf Leidenschaft beruhen. Ein Gedanke, den das Ehepaar Helbig/Wagner ebenso weiterführt wie das Isarmärchen, das die Verbindung der Komponierenden zur Stadt München unter das Brennglas legt. Verbindungen, die auf gegenseitig inspirierendem Austausch beruhen. Was könnte schöner sein?
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