Kontinuierliche Auseinandersetzung mit allem: Das Literaturhaus München inszeniert die Susan-Sontag-Ausstellung »Everything matters« als dreidimensionales Ereignis.
Susan Sontag
Signature Sontag

Susan Sontag, New York 1978 | © Foto Thomas Victor, Courtesy Harriet M. Spurlin
Fünf Skyscraper ragen hoch bis zur Decke, über die Fassaden flimmern Leuchtsprüche, die mittlere Avenue eröffnet den Blick auf den Central Park und Brownstone-Häuser, dazu der Sound der nie schlafenden Stadt: Am Eingang bestimmt Richard Avedons ikonisches Foto von Susan Sontag im Ledermantel das Setting, und doch feiert diese Ausstellung auch New York – die Stadt, in der die US-Amerikanerin 1933 geboren wurde und, mit Unterbrechungen, ab 1959 bis 2004 (über-)lebte. Susan Sontag ist nach Hannah Arendt, Simone de Beauvoir und Ingeborg Bachmann die vierte bedeutende Autorin, Denkerin und Public Intellectual des 20. Jahrhunderts, der das Literaturhaus eine Ausstellung widmet – und zwar erstmals keine übernommene, sondern eine komplett neu erdachte.
Am Anfang war ein Buch: Mit ihrer schlanken, 100 Seiten umfassenden Sontag-Monografie bot die Literaturwissenschaftlerin Anna-Lisa Dieter 2022 einen niedrigschwelligen Zugang zu der so glamourösen wie komplexen Star-Intellektuellen. Auf dieser Basis konzipierte Dieter eine zugängliche Ausstellung mit den Stationen »Lesen«, »Schreiben«, »Sehen«, »Handeln«, »Über-Leben«. Anna Seethaler kuratierte – und Florian Wenz und Costanza Puglisi entwickelten die oben beschriebene Szenografie, die die Grundfrage jeder Literaturausstellung aushebelt: Wie bringe ich die Flachware Literatur in die Dreidimensionalität? Der Begriff »Flachware« umfasst im Museum zweidimensionale Objekte wie Tage- und Notizbücher, Romane, Zeitungen, Briefe – also das, was eine schreibende und denkende Persönlichkeit ausmacht.
Bei Sontag sind die Dinge anders gelagert: »Ich werde mich voll und ganz auf alles einlassen … alles ist wichtig! Das Einzige, was ich aufgebe, ist die Berechtigung, aufzugeben, mich zurückzuziehen«, notierte sie im Mai 1949 ins Tagebuch. Dieses mit 16 Jahren formulierte Credo behielt sie ihr Leben lang bei: Sontag unterschied nicht zwischen Hoch- und Populärkultur, sie war eine besessene Sammlerin und häufte neben Büchern auch Kitsch und Nippes an. Dass sie alles als gleichberechtigt ansah, bestätigte sie 1996 im »Rolling Stone«-Interview: »Wenn ich zwischen den Doors und Dostojewski wählen müsste, entschiede ich mich – selbstverständlich – für Dostojewski. Aber muss ich denn wählen?« Dies spiegelt sich in »Everything matters«: »Wir wollten Sontags Präsenz ebenso wie New York in seiner ganzen Höhe, Tiefe und Kleinteiligkeit ins Literaturhaus bringen«, sagt Florian Wenz. Dabei symbolisieren Sontag-Zitate auf Werbebannern, Film- und Toneinspielungen die Flüchtigkeit der Metropole – und die von allen vier Seiten thematisch befüllten »Ausstellungshäuser« die Gleichzeitigkeit und Überlagerung. So liegen an der Station »Schreiben« Originalausgaben von »Partisan Review«, »New Yorker« und »Playboy« mit Beiträgen von Sontag sowie die »Vanity Fair«, in der sie sich 2000 im März als »Signature Sontag« porträtieren ließ und im Juli für Wodka warb. Ihre Inszenierung als glamouröse Denkerin war anfangs auch finanziell motiviert: Die höheren Honorare der Hochglanzmagazine halfen der alleinerziehenden Mutter in ihren frühen New-York-Jahren.

Sontags Essay »Against Interpretation« als Beitrag der Evergreen Review im Dezember 1964 | © unodue{
Heute hütet Sontags Sohn David Rieff ihren persönlichen Nachlass in seinem New Yorker Loft; der literarische Nachlass liegt in der University of California. Aus beiden sind einige Originale und Faksimiles erstmals in »Everything matters« zu sehen. Rieff übergab Literaturhausleiterin Tanja Graf Sontags Exemplar »Understanding Brecht« von Walter Benjamin sowie deren Montblanc-Füller »Meisterstück No. 149« – obwohl Sontag meist tippte, weil sie darin schneller war. Ein speckiger Ledermantel in einem Kleidersack entpuppte sich als der auf Avedons Sontag-Foto anno 1978. Das »Signature-Piece« von Hermès bereichert nun die Station »Sehen«.
An der Station »Lesen« liegt Sontags Manuskript »At Thomas Mann’s« von 1949. In dem Essay beschreibt sie ihren Besuch bei dem von ihr als »Gott« verehrten Schriftsteller in Pacific Palisades. »Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie ›Der Zauberberg‹«, sagte sie 54 Jahre später bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Geehrt wurde die »Suchende«, die Literatin und Publizistin, die Wahrheiten misstraute, alles durchdachte und sich jeder Kategorie entzog. Die Station »Handeln« gewährt unter anderem Einblicke in Sontags FBI-Akte, die ihr Engagement gegen den Vietnamkrieg dokumentiert.
Am Eröffnungsabend analysierte Anna-Lisa Dieter Sontags ungebrochene Aktualität in Bezug auf Identitätspolitik, Digitalität und KI. In »Everything matters« sprechen unter anderem Luisa Neubauer, Lena Gorelik und Jovana Reisinger in Kurzfilmen über Sontags Einfluss bis heute – und auf sie persönlich. Sontag selbst positioniert sich in Videosequenzen zu Themen wie Gender, Krieg, Krankheit, und im Begleitprogramm inspiriert ein offener Lesekreis, sich in ihrem Sinne eine eigene Meinung zu bilden: »Ich schreibe – und rede –, um herauszufinden, was ich denke.« ||

Blick in die Ausstellung mit den nachempfundenen Häuserschluchten New Yorks | © Catherina Hess
AUSSTELLUNG
SUSAN SONTAG. EVERYTHING MATTERS
Literaturhaus München | bis 30. November | Mo bis So 11–18, Do 11–20 Uhr
BEGLEITPROGRAMM IM JUNI
SONTAG LESEN. OFFENER LESEKREIS
Literaturhaus München | 26. Juni | 19 Uhr | Moderation: Fabienne Imlinger
NANCY KATES: REGARDING SUSAN SONTAG (2014)
Filmmuseum | 27. Juni | 18 Uhr | Einführung: Anna Seethaler
SUSAN SONTAG: DUET FOR CANNIBALS (1969)
Filmmuseum | 28. Juni | 18 Uhr | Führungen und weitere Termine bis Oktober
EINSTIEGSLEKTÜRE
ANNA-LISA DIETER: SUSAN SONTAG. 100 SEITEN
Reclam, 2022 | 100 Seiten | 10 Euro
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