In »Dream Count« erzählt Chimamanda Ngozi Adichie von den Träumen vier nigerianischer Frauen und hat einen zutiefst gegenwärtigen Roman geschaffen.
»Dream Count« von Chimamanda Ngozi Adichie
Geteilte Träume

Chimamanda Ngozi Adichie | © Manny Jefferson
Die Erscheinung eines Romans als internationales Ereignis: Das muss man – respektive frau – in dieser von Bildern, Storys, Statements überfluteten Welt erst mal hinbekommen. Chimamanda Ngozi Adichie ist es gelungen: Lange wurde keinem Buch so entgegengefiebert wie »Dream Count« nach ihrem Megaerfolg von 2013 mit »Americanah«.
Ein Coup gelang der nigerianischen Autorin und Aktivistin auch mit dem Titel: »Dream Count« erinnert an »Body Count« – ein Begriff mit beachtlicher Bedeutungsverschiebung. In der Sprache des Militärs beziffert er die Zahl der gegnerischen Gefallenen im Krieg. Auf Social Media steht »Body Count« heute für die aktuelle Anzahl an Sexpartner*innen einer Person. Im Roman bezieht sich die abgewandelte Bezeichnung auf die (geplatzten) Träume von vier Frauen. Drei dieser Kosmopolitinnen bewegen sich zwischen den USA und ihrer Heimat Nigeria – leichtfüßig und versiert wie Adichie selbst. Das Zentrum bildet Chiamaka, genannt Chia. Weitab von ihrer reichen nigerianischen Familie ereilt die mäßig erfolgreiche Reiseschriftstellerin während der Pandemie die Einsamkeit. Doch während »normale Menschen im Lockdown unter Angstzuständen litten«, sagt ihre Cousine Zikora, sei Chia damit beschäftigt gewesen, ihren Verflossenen hinterherzurecherchieren und ihren »Body Count durchzugehen«. »Dream Count«, korrigiert Chia: »Die Welt hat sich verändert, und dann schaut man zurück, um mal Bilanz zu ziehen und zu sehen, wie man eigentlich gelebt hat.«
Zikora zieht in Washington ebenfalls Bilanz: Die erfolgreiche Anwältin wurde von ihrem Freund verlassen, nachdem sie ihm ihre Schwangerschaft offenbart hatte. Daher begleitet ihre Mutter die Geburt – und Zikora sieht die eigene Mutter-Tochter-Beziehung in neuem Licht. Chias beste Freundin Omelogor erfindet sich in Nigeria neu: Die bislang recht skrupellose Finanzmanagerin unterstützt minderprivilegierte Frauen bei der Geschäftsgründung und berät auf ihrer Website »For Men Only« Männer zum Umgang mit Frauen. Und dann ist da Zikoras Haushaltshilfe Kadiatou. Um Tochter Binta vor der Beschneidung zu bewahren, hat sie um Asyl in den USA gebeten. Dort wird die Hoffnung auf eine aussichtsreichere Zukunft zum Alptraum: Als Zimmermädchen in einem Hotel beschäftigt, wird Kadiatou von einem prominenten Gast vergewaltigt. Dass die drei anderen Frauen Kadiatou in dieser Situation beistehen, ist ein Strang des vornehmlich aus Gesprächen gewobenen dichten Beziehungsgeflechts. In ihren miteinander geteilten Gedanken umkreisen sie alle aktuellen Diskurse – es geht um Rassismus, Feminismus, Gender, sexuelle Gewalt und immer, immer, immer wieder um Männer. Vielleicht hätte man sich von einer Starautorin etwas Neues, Radikaleres gewünscht. Andererseits entwickelt Adichie von Beginn an einen Erzählsog, der über 500 Seiten trägt und vier (nigerianische) Frauen im Hier und Jetzt positioniert. Dafür wird sie von Fans weltweit geliebt – und von einer Fachjury für den »Women’s Prize for Fiction 2025« nominiert.
»Dream Count« ist ein zutiefst gegenwärtiger Roman. Das bedeutet auch, dass manches in unserer Schnelllebigkeit wie aus einer früheren, besseren Zeit aufleuchtet: »Aber Amerika war wie eine Party, deren Gastgeberin sich auf alle Eventualitäten vorbereitet hatte, auf alle«, sagt Chia. »Ich wollte bleiben, weil ich hier nie zu fremd sein würde …« ||
CHIMAMANDA NGOZI ADICHIE: DREAM COUNT
Aus dem Englischen von Asal Dardan und Jan Schönherr
S. Fischer, 2025 | 528 Seiten | 28 Euro | Link
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