»Red Rooms« erzählt mit viel dramaturgischer Finesse von den Abgründen des Darkweb. Das Grauen entsteht dabei ausschließlich im Kopf des Publikums.
Red Rooms
Herz der Finsternis
Groupies von psychopathischen Serienkillern sind eines jener Zivilisationsphänomene, das wohl auch die kulturpessimistischsten Zeitgenossen unter uns nicht vorausgeahnt haben. Der kanadische Regisseur und Drehbuchautor Pascal Plante widmet jener sonderbaren Gattung von Gewalttätern Faszinierter mit »Red Rooms« gleich einen ganzen Kinofilm, einen, der sich den denkbar tiefsten menschlichen Abgründen verschrieben hat.
Die beiden jungen Frauen Clementine (Laurie Babin) und Kelly-Anne (Juliette Gariépy) besuchen im kanadischen Montreal täglich den Prozess gegen den Angeklagten Ludovic Chevalier (Maxwell McCabeLokos). Ihm wird vorgeworfen, drei Mädchen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren auf bestialische Weise ermordet und sich bei den Taten gefilmt zu haben, um die Videos schließlich im Darkweb feilzubieten. Clementine, die naivere der beiden Frauen, ist felsenfest von der Unschuld Ludovics überzeugt. Für sie kann der Prozess eigentlich nur mit einem Freispruch enden, dabei ist die Beweislast gegen Ludovic erdrückend.
Die Motivation für ihr Teilnehmen am Prozess ist im Fall der weitaus undurchdringlichen Kelly-Anne weniger offenkundig. Die junge Frau verdient ihren Lebensunterhalt mit hoch dotierten Modeljobs sowie mit Onlinepoker. In ihrem High-End-Apartment über den Dächern der Stadt steht Kelly-Anne stets im verbalen Austausch mit einer eigens programmierten KI, die wesentliche organisatorische Aufgaben ihrer Dienstherrin übernimmt. Kelly-Anne führt ein seltsam entrücktes Dasein, das auf Kicks aus zu sein scheint. Trotz ihrer luxuriösen Bleibe pflegt Kelly-Anne die Nächte unter freiem Himmel auf der Straße zu verbringen. Und seit Neuestem ist da die Sache mit dem irren Killer Ludovic.
Das Grauen, das sich in »Red Rooms« über die gesamte Spieldauer des Films auf suspensereiche wie erschütternde Weise breitmacht, ist zu keinem Zeitpunkt ein explizites. Keine der dokumentierten und detailliert geschilderten Taten wird sichtbar, es entsteht nahezu ausschließlich im Kopf der Zuschauer. Die sollten im Fall von »Red Rooms« in jedem Fall ein robustes Gemüt mitbringen. Zwar sind die im Film geschilderten Taten fiktionaler Natur, doch stellt sich durch die von Regisseur Pascal Plante gewählte eindringliche Darstellungsform unmittelbar das Gefühl ein, einem sehr zeitgenössischen Phänomen unseres Zeitgeists aus nächster, ungeschützter Nähe beizuwohnen.
Im überwiegend unterkühlten Look grünlichbläulicher Bilder (die titelgebenden Folterkammern, die »Red Rooms«, sind nur einmal zu sehen) macht sich eine Atmosphäre von Unheil und tiefer Isolation breit. Was treibt Kelly-Annes an? Will sie die Ermittler bei ihrer Arbeit unterstützen, wenn sie im Darkweb nach weiteren Tatvideos sucht? Oder hat die von Juliette Gariépy eindrucksvoll gespielte Frau insgeheim eine andere Motivation? Mit technischer Perfektion auf der Bildebene, einem zudem verstörenden Elektrosoundtrack sowie dramaturgischer Finesse nähert sich Pascal Plante einem wahren Herz der Finsternis in digitalen Sphären. Uns Zuschauern liefern die Filmemacher dabei wenig Anlass zur Hoffnung. Dass ein solches Grauen wie in »Red Rooms« irgendwo dort draußen in den Untiefen des Webs lauert, scheint nach diesem Film nur allzu naheliegend. ||
RED ROOMS
Kanada 2023 | Buch & Regie: Pascal Plante | Mit: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas, Natalie Tannous, Pierre Chagnon | 118 Minuten | Kinostart: 7. November
| Website
Weitere Filmkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Neue Geschichten vom Pumuckl: Interview mit Korbinian Dufter
Yishai Sarid: Der Roman »Siegerin«
Thomas Vinterberg im Interview: »Der Rausch«, seine Tochter Ida ...
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton