Auch in diesem Sommer haben wir wieder einige Buchtipps für Sie zusammengetragen. Hier eine kleine Kostprobe, die komplette Auswahl finden Sie in der aktuellen Ausgabe.

Buchtipps für den Sommer

In den Koffer!

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MITEINANDER
Manchmal, zugegeben selten, zieht ein Buch einen so hinein in eine andere Welt, in andere Länder und andere Familien, dass die Grenzezwischen erzählter und realer Welt ein wenig verschwimmt. So, dass das Ende dieses Buchs, auch wenn es über 500 Seiten lang ist, auf jeden Fall zu früh kommt. Ann Napolitanos Roman »Hallo du Schöne« ist so ein Buch. Schon der erste Satz lässt ahnen, dass es hier spannend wird, beglückend und traurig: »Die ersten sechs Tage seines Lebens war William Waters kein Einzelkind.« Seine dreijährige Schwester Caroline stirbt kurz nach Williams Geburt. Napolitano legt in den ersten Sätzen eine Fährte, der sie über hunderte Seiten folgen wird: Ein Mensch verschwindet, ein anderer kommt. Wo Schmerz ist, ist auch Glück. Das Leben ist immer eine Gleichzeitigkeit von allem. Die Autorin folgt William Waters durch sein Leben, das kein leichtes ist, und stellt ihm eine Familie starker Frauen an die Seite: die vier Padavano-Schwestern, die zu seinem neuen Lebenszentrum werden. Napolitano schreibt über Schmerz, Liebe, Verlust und Nähe; über alles, was Familie ist, und alles, was das Miteinander so schwierig und gleichzeitig lebenswert macht. »Hallo du Schöne« ist ein Buch über abwesende Väter und unversöhnliche Mütter, aber auch eines über mögliche Annäherungen. Ein Buch über das Leben. Schmerzhaft schön. ||
ANNE FRITSCH

ANN NAPOLITANO: HALLO DU SCHÖNE
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence | Dumont, 2024 | 512 Seiten | 25 Euro

 

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FAMILIENDRAMA
Das Familiendrama um die Geschäftsführerin eines Autohauses, die für das Bürgermeisteramt kandidiert, während sich ihre Tochter in panischer Angst vor dem Weltuntergang verbissen bei einer Klimainitiative engagiert, ist routiniert geschrieben. Die Figuren sind glaubhaft entwickelt, die Dialoge stimmen. Kaum ein aktuelles Stichwort wird ausgespart: Ukraine, Pandemie, Trump, vegane Ernährung, Klimawandel, Straßenkleber, rechte Parteien, Abtreibung, Cannabis. Nur Bahnstreik und Zeitenwende fehlen. Nicht auszuschließen, dass dafür einiges aus dem Hause Fried eingearbeitet ist. Und obwohl man den Handlungsverlauf vorhersehen kann, bleibt es spannend, auch wenn man sich ein wenig mehr Ironie und ein paar weniger schnörkelige Formulierungen gewünscht hätte. Die Geschichte wäre gut als Fernsehunterhaltung vorstellbar. Ich würde es mir ansehen. ||
WOLFGANG BACHMANN

AMELIE FRIED: DER LÄNGSTE SOMMER IHRES LEBENS
Heyne, 2024 | 433 Seiten | 22 Euro

 

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LEBEN
Bei einer Lesung an der US-Ostküste im Jahr 2022 wird der weltbekannte Bestsellerautor Salman Rushdie von einem Islamisten auf brutalste Weise niedergestochen. Entgegen den frühen ärztlichen Prognosen überlebt Rushdie, auf dem seit dem Erscheinen seines Buches»Die satanischen Verse« eine Fatwa des religiösen Führers der islamischen Republik Chomeini lag. Das Memoir »Knife« erzählt von dem Attentat auf das Leben des Autors und ist eine Meditation über den Tod, die Liebe und vor allem das Leben. Von einem Arzt erhält der lebenslange Atheist Rushdie die Aussage, Gott habe seine schützende Hand über ihn gehalten. »Knife« ist natürlich auch ein Buch über den Verlust. Die schweren Gesichts- und Kopfverletzungen Rushdies haben zum einseitigen Verlust seines Augenlichts geführt. Dank der Liebe zu seiner Partnerin Eliza– die beiden fanden kurz vor dem Attentat zusammen – übersteht Rushdie die schwere Zeit im Krankenhaus und die darauffolgende Rekonvaleszenz. Es ist ein
gängiger Topos der Literatur, dass sich über das Unglück allzu leicht und über das Glück überhaupt nicht schreiben lässt, da es »mit weißer Tinte auf weißem Blatt« geschrieben scheint. Doch Rushdie gelingt mit »Knife« just dieses literarische Kunststück. ||
CHRIS SCHINKE

SALMAN RUSHDIE: KNIFE. GEDANKEN NACH EINEM MORDVERSUCH
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Penguin, 2024 | 256 Seiten | 25 Euro

 

Ein Geist in der Kehle von Doireann Ni Ghriofa

KLAGELIED
»It’s a book of obsession«, »ein Text über Besessenheit«, so ordnet die irische Poetin ihren ersten Prosatext ein. Es ist die Autobiografie einer Mutterschaft, durchwoben mit der Biografie von Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die im Jahr 1779 das »Klagelied für Art Ó Laoghaire« verfasste, das bekannteste irisch-gälische Lamento. Ní Ghríofa erinnert sich an diese 36 Verse, die sie schon als Elfjährige faszinierten, und übersetzt sie ins Englische, damit Windeln, Milchpumpe und Todo-Listen sie nicht vollends überwältigen. »Wenn jeder Tag einer vollgekritzelten Seite gleicht, dann besteht meine Aufgabe darin, ihre Buchstaben wegzuschrubben. Darin ist meine Arbeit die Auslöschung von Anwesenheit.« Der poetische Abgleich von Schreiben mit Care-Arbeit, von Da-sein mit Text-sein macht diese Seiten so fesselnd. Weil sie weder in Bibliotheken noch Archiven Infos zum Leben der Dichterin findet, beschließt die Erzählerin, dieser Auslöschung weiblicher Existenz durch männliche Chronisten geografisch entgegenzuarbeiten: Sie sucht Eibhlíns Geburtsort auf, ein Ringfort, das Haus ihrer Schwester, den Ort ihrer ersten Ehe … Dieser Roman wird Detektivgeschichte und Beschwörung: »Eibhlín Dubh kommt auf Zehenspitzen herein, um mir in meinen Tagträumen Gesellschaft zu leisten.« ||
LEO HOFFMANN

DOIREANN NÍ GHRÍOFA: EIN GEIST IN DER KEHLE
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe | btb, 2023 | 384 Seiten | 24 Euro
Hier einige Buchtipps aus dem letzten Sommer

 


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