Annette Paulmann verschränkt in ihrem Regiedebüt »Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst« Lena Christs Texte mit eigenen.

Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst

Zwei Kindheitsgeschichten und viele Gesichter

Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst

Annette Paulmann spielt alle Rollen auf Bühne und Leinwand | © Judith Buss

Wo hört Lena Christ auf und wo fängt Annette Paulmann an? Wirtstöchter waren und sind sie beide: die 1881 in Glonn geborene bayerische Autorin und das in den 60er-Jahren in Niedersachsen aufgewachsene langjährige Ensemblemitglied der Kammerspiele, das mit »Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst« sein spätes Regiedebüt vorlegt. Es ist ein berührender Soloabend geworden, dessen Kraft live aus dem Erzählen kommt und aus Paulmanns Verwandlungskunst, die Kai Metzner in 14 Sepiaporträts festgehalten hat: Mann, Frau, Bäuerin oder Arzt, mit Dutt oder Bart, lippenlos ergrimmt oder mit hintergründigem Lächeln. Dieser ganzen fiktiven Ahnengalerie gibt Paulmann Kontur und Charakter.

Dann kommt sie in Fleisch und Blut auf die Werkraumbühne und ergreift das Wort als Lena Christ, die seit ihrem achten Lebensjahr von ihrer Mutter als Gratisarbeitskraft ausgebeutet, emotional ausgehungert und nach Strich und Faden verdroschen wurde. Kein gutes Wort, dafür Arbeit satt und spanisches Rohr, Ochsenfiesel, Totschläger oder Fußtritte für minimalste »Verfehlungen«: »Es gab Tage, wo ich mich vor Schmerzen kaum rühren konnte … Geliebt hat mich meine Mutter nie«, hört man Paulmann sagen. Und es ist eine der wenigen Stellen, an denen ihre Stimme, die in Ton und dialektaler Färbung immer trocken norddeutsch bleibt, von aufsteigenden Tränen beschwert wird. Und erst später, als sie die rote Perücke abgezogen und das altmodische Kleid gegen eine 70er-Jahre-Stonewashed-Jeanskluft getauscht hat, fragt man sich, ob nicht schon da auch die kleine Annette in ihr schwer schluckte. Oder ein anderes Mädchen, das fast ein Jahrhundert später Ähnliches erleben musste. In eigenen Texten, die mit Ausschnitten aus Christs »Erinnerungen einer Überflüssigen« verschwimmen, erzählt Paulmann von unbedingtem Gefallenwollen und eisiger Ablehnung und berührt, ohne Grausamkeiten und kleine Freuden illustrieren zu müssen. Nur einmal haut sie mit einem Stock voller Kraft auf ein Federbett ein, und die Gewaltlust, die eine Generation der nächsten einprügelt, wird plastisch.

Sentimentaleres und das Gros des Zeit- und Lokalkolorits hingegen werden an kurze Videos delegiert, auf denen eine feine Schüssel sehr langsam und hochartifiziell in Stücke springt oder zwei Paulmanns in zwei Bilderrahmen in die Berge blicken oder in perlendem Regen auf einer Bank sitzen. Fast gleich, aber nicht ganz identisch. Rundumvideos verwandeln zwischendurch auch die gesamte Bühne, die Farbklecks für Farbklecks zu einem Kinderzimmer wird, das aussieht, als hätte van Gogh es gemalt. Auch die Eltern von Lena Christ kommen in einem Minispielfilm zu Wort – selbstverständlich beide von Paulmann gespielt: Christs stumm-verdruckster (Stief-)Vater und die bis zum Platzen selbstzufriedene Mutter, die auch nach dem Selbstmord der als Gelegenheitsprostituierte und Betrügerin straffällig gewordenen Tochter kein gutes Haar an ihr lässt. Ihr mütterlicher Wunsch, sie möge nach der Heirat»keine glückliche Stunde« haben, ist offenbar in Erfüllung gegangen. Für Paulmann oder das autofiktionale Alter Ego, mit dessen Hilfe sie Christs Geschichte in die Gegenwart zieht, ist es besser gelaufen. Das vom ältesten Bruder geerbte Fahrrad hat ihr eine erste Ahnung von Freiheit verschafft. Und so ziehtsie zuletzt auf einem alten und für sie viel zu kleinen Bonanzabike ihre Kreise, die Hände am geweihartig ausladenden Lenker und mit ihrer hellen Stimme »Mama« rufend. Ein irrer Moment. Ein toller kleiner Abend! ||

FÜNF BIS SECHS SEMMELN UND EINE KALTE WURST – VON WIRTSTÖCHTERN UND IHREN MÜTTERN
Kammerspiele Werkraum | 2. Dez. | 20 Uhr | Tickets 089 23396600
Weitere Theaterkritiken gibt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

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