Nini & Carry Hess und Gertrulde Fuld: Drei Fotopionierinnen hielten das Theaterleben der 20er Jahre in Frankfurt und München fest. Eine Ausstellung im Theatermuseum.

Nini & Carry Hess / Gertrude Fuld

Hin zum seelischen Ausdruck

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Oben: Dorothea Wieck als Filmdiva Julia Bresproswannaja in »Komödie der Verjüngung« (Alexej Tolstoi) Schauspielhaus Frankfurt am Main, 1929 | © Nini & Carry Hess, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln

Joseph Niépce brauchte 1826 acht Stunden, um das erste Foto der Welt zu belichten. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich aus der statischen Kunstfotografie Daguerres und seiner Nachfolger durch neue Techniken um 1900 eine lebendigere Bildgestaltung entwickeln konnte. Den Wandel vom Foto als eingefrorenem Andenkenfoto hin zum spontanen Festhalten eines Ausdrucks zeigt im Deutschen Theatermuseum die Ausstellung »Nini & Carry Hess. Gertrude Fuld. Theaterfotografie in der Weimarer Republik«.

Alle drei waren Fotopionierinnen. Die Schwestern Hess sind heute fast vergessen, weil ihr Atelier und Archiv in der Reichspogromnacht 1938 vollständig vernichtet wurden. 1913 eröffnen die beiden – Nini war 29, Carry 24 Jahre alt – ein Fotoatelier in Frankfurt, das schon bald zu den renommiertesten in Deutschland zählt und zu einem Künstlersalon wird. Wer auf sich hält, lässt sich in den 20er Jahren von ihnen porträtieren. Durch gute Kontakte zum Frankfurter Schauspiel, damals die angesehenste deutsche Bühne, dürfen sie bei Theaterproben und Aufführungen fotografieren. So dokumentieren sie die Veränderung der Theaterästhetik über den Expressionismus hin zur Neuen Sachlichkeit, geben auch ein Fotobuch über eine Gastspielreise des jüdischen Habima-Theaters heraus. Sie sind erfolgreich und gut vernetzt, ihre sensiblen Porträtaufnahmen zieren oft die Titel der Zeitschrift »Neue Frau«.

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Erika von Thellmann als Puck in »Sommernachtstraum« (William Shakespeare) Heidelberger Schlossfestspiele, 1927 © Nini & Carry Hess, Archiv Deutsches Theatermuseum München

In München ist es Gertrude Fuld, die sich zehn Jahre später, 29 Jahre alt, mit einem eigenen Atelier selbstständig macht. Ihre Kundin Gina Falckenberg empfiehlt sie an ihren Vater Otto Falckenberg, den Intendanten der Kammerspiele. So wird Fuld ab 1928 zur Dokumentaristin des Theaterlebens in den Kammerspielen, später auch anderer Münchner Bühnen. 1938 bedeutet für alle drei Frauen wegen ihrer jüdischen Herkunft das Ende ihrer Karriere in Deutschland. Carry Hess ist wegen der vielen Arbeitseinschränkungen bereits 1933 nach Paris emigriert. Nini führt das Atelier allein weiter, das die Nazis 1938 zerstörten. Ihre Mutter wird 1942 nach Theresienstadt deportiert und stirbt dort 1943, Nini wird vermutlich nach Auschwitz deportiert und dort ermordet – ihr Name findet sich im dortigen Totenbuch. Carry wird zeitweilig im französischen Lager Gurs inhaftiert, sie überlebt mit Mühe, hält sich erkrankt und halb erblindet als Putzfrau oder Fahrradbotin über Wasser. Jahrelang kämpft sie um eine Entschädigung von der BRD. Als sie endlich eine geringe Summe erhält, stirbt sie kurz danach 1957 auf einer Reise in der Schweiz.

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Therese Giehse als Irma Pistora und Josef Eichheim als Der alte Pistora in »Die Bekehrung des Ferdys Pistora« (František Langer), Münchner Kammerspiele, 1931 | Foto: Gertrude Fehr-Fuld, Deutsches Theatermuseum München, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Das Frankfurter Museum Giersch konnte durch Bestände anderer Museen das verlorene Gesamtwerk der Hess-Schwestern rekonstruieren und ausstellen. Einen Teil davon mit dem Schwerpunkt Theaterfotografie zeigt nun das Münchner Theatermuseum im Obergeschoss. Dort sieht man die Frankfurter Theaterentwicklung über mehr als zehn Jahre. Im Nebenraum ist die traurige Nachkriegsgeschichte Carrys dokumentiert. Dazu gibt es auch den schwergewichtigen Katalog »Die Fotografinnen Nini und Carry Hess«. Das Erdgeschoss ist der Münchner Fotografin Gertrude Fuld gewidmet. Dort hängt ein ausdrucksstarkes Porträt von Tilla Durieux, das signifikant den Unterschied zu früheren Künstleraufnahmen zeigt. Vorher stellten sich Schauspieler in einer Pose ihrer Rolle dar, nun geht es um seelischen Ausdruck, um die Essenz eines Charakters. Diese Entwicklung zeichnet das Theatermuseum historisch erhellend anhand von Aufnahmen früherer Münchner Fotostudios nach. Fuld emigrierte ebenfalls 1933 mit ihrem Mann Jules Fehr nach Paris, gründete eine Fotoschule und nahm an der Weltausstellung teil. Bei Kriegsausbruch 1939 ließ sich das Paar in derbSchweiz nieder und betrieb eine Fotoschule in Lausanne. Gertrude Fehr starb 1996 – mit 101 Jahren. Sie und die Schwestern Hess haben großartige künstlerische Zeugnisse des Theaterlebens in Frankfurt und München hinterlassen, die man nur selten zu Gesicht bekommt. ||

NINI & CARRY HESS. GERTRUDE FULD. THEATERFOTOGRAFIE IN DER WEIMARER REPUBLIK
Deutsches Theatermuseum | Galeriestr. 4a
bis 8. März | Di bis So 11–17 Uhr

DIE FOTOGRAFINNEN NINI UND CARRY HESS
Hg. von Eckhardt Köhn und Susanne Wartenberg | Hirmer, 2022 | 256 S., ca. 180 Abb.
39,90 Euro (29 Euro an der Museumskasse)

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