Der polnische Regisseur Jerzy Skolimowski schickt in »EO« einen Esel auf Reisen und zelebriert dabei die Utopie des Kinos.

EO

Tour de Force

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Mit seinem ungewöhnlichen Film gewann Jerzy Skolimowski auf dem Filmfestival in Cannes den Preis der Jury | © Aneta&Filip Gębscy

Der vielleicht menschlichste Film des Kinojahres hat keinen menschlichen Protagonisten, sondern einen äußerst eigensinnigen Vierbeiner zur Hauptfigur, den Esel EO. Als Kinozuschauer sind wir natürlich vertraut mit tierischen Sympathieträgern, zumeist in der knuffigen Disney-Variante. Die Formel der Vermenschlichung tierischer Helden hat uns über Jahrzehnte hinweg beigebracht, Tiere nicht ausschließlich als unser Mittagessen zu betrachten, sondern hin und wieder auch Mitgefühl mit Bambi und Co. zu empfinden. Getreu einem immer gleichförmigen Prinzip: Egal ob Horntier, Schweinchen oder Hund – wir sind doch am Ende alle nur Menschen.

Einem solchen Anthropomorphismus aber verweigert sich der polnische Regisseur Jerzy Skolimowski in seinem Film »EO« mindestens so störrisch wie seine Hauptfigur. Der Arbeitstitel seines Films lautete: »Balthazar«. Cineastisch Geneigte lässt das freilich an Robert Bressons Spielfilm aus dem Jahr 1966 denken, der ebenfalls einen Esel zur Hauptfigur hatte. Die Qualen der stummen Kreatur inszenierte Bresson damals als christusgleichen Leidensweg. Der 84-jährige Skolimowski wagt sich mit seinem ersten Kinofilm seit sieben Jahren an eine Neuinterpretation von Bressons Arbeit. Seinen Helden schickt er dabei auf eine ebensolche Tour de Force, die EO von Polen aus schließlich bis nach Italien führt. Von einem Zirkus aus, in dem EO anfangs sein Dasein fristet, bis zu einem unermesslichen Abgrund, an dem Skolimowskis Film schließlich sein Ende findet.

Die Stationen von EOs Heldenreise sind stets konkret, die Hintergründe seiner Anwesenheit nebulös. Das Erfahren des Tieres, das immer wieder Reißaus nimmt aus der menschlichen Obhut, findet einen einzigartigen filmischen Ausdruck, der uns Zuschauern die Erfahrung völliger Fremdartigkeit beschert. Skolimowski ist nichts daran gelegen, EO auch nur ansatzweise mit Charaktereigenschaften auszustatten, die als menschlich gedeutet werden könnten. Das Innenleben der Kreatur, seine möglichen Gedanken bleiben uns verschlossen. Die Bilder, die Skolimowski und sein virtuoser Kameramann Michaʼ Dymek dafür finden, sind etwa die Großaufnahmen von Eos Auge: Im Zentrum des Bildes, ist es nichts als ein schwimmendes, schwarzes Etwas. Was ist es, was sich darin spiegelt? Immer wieder zeigen sie uns auch Panikbilder, monochrome, ins Rot getauchte Angstaufnahmen. Bei der jungen Frau Kasandra (Sandra Drzymalska), anfangs im Zirkus, erfährt EO Liebe und Zuneigung, doch wird sie ihn enttäuschen, so wie sämtliche menschliche Figuren im Laufe der Handlung. Verschlossen bleiben uns auch die Handlungsmotive des tierischen Helden. Vor einer Horde besinnungsloser Fußballfans, die ihn schließlich verprügelt, läuft EO nicht davon. Irgendwann taucht auch noch Isabelle Huppert auf, sie beachtet den Esel gar nicht erst.

Wir Menschen kommen in dieser Erzählung wahrlich nicht gut weg. Und dennoch ist Jerzy Skolimowskis »EO« eine Geschichte, die von einem zutiefst menschlichen Vermögen erzählt, der Fähigkeit an der Stelle eines anderen zu denken, so andersartig er auch sein mag. »EO« ist deswegen am Ende ein utopischer Film, weil er an die unbändige Kraft des Kinos glaubt, dieses Mitgefühl möglich zu machen. ||

EO
Polen, Italien 2022 | Regie: Jerzy Skolimowski | Buch: Jerzy Skolimowski, Ewa Piaskowska | Mit: Sandra Drzymalska, Lorenzo Zurzolo, Isabelle Huppert, Mateustz Kościukiewicz | 88 Minuten
Kinostart: 22. Dezember
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