Viele Kinder haben das Hören verlernt. Seit mehr als drei Jahrzehnten bringt »Musik zum Anfassen« daher Klänge und Konzerte an Münchner Grundschulen.

Musik zum Anfassen

Mehr als Spaßkonzerte

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So ziemlich allem lässt sich Musik entlocken: Schülerinnen beim Erforschen der »Klang(G’)Schichten« © Irina Pasdarca

Zwei Tage vor dem ersten Advent herrscht im Foyer der Grundschule an der Margarethe-Danzi-Straße große Aufregung. Die rund 100 Zweit- und Drittklässler haben zum letzten Mal Besuch vom Team »Musik zum Anfassen« bekommen, das seit einigen Wochen mit ihnen arbeitet. Es geht darum, Geschichten mit Hilfe von Klängen zu erzählen. Und jetzt ist es die letzte Probe vor dem öffentlichen Weihnachtskonzert, das im Backstage über die große Bühne ging, verständlicherweise geprägt von einer Mischung aus Neugier, Aufregung und der gespannten Unsicherheit bei den Kindern, so etwas ja eigentlich noch nie gemacht zu haben. »Wenn die selber spielen, hören sie auch gut zu«, sagt Flötist Christian Mattick, der seit 20 Jahren mit Kolleginnen und Kollegen die »Musik zum Anfassen« organisiert.

Die Idee dahinter ist ebenso einfach wie naheliegend. Schulmusik ist ein Sorgenkind der Pädagogik. Wie alles, was nicht in Noten oder Zahlen quantifizierbar ist, unterliegt sie dem strukturellen Zweifel einer selbst im Grundschulalter am Leistungsprinzip der Wohlstandsgesellschaft orientierten kultusministerialen Vorstellung, keine konkreten, messbaren Ergebnisse zu produzieren. Dass die Neurowissenschaften längst die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit gemeinsamen Musizierens belegt haben und dem Gruppenspiel ebenso grundlegende soziale Qualitäten wie dem klingenden Ergebnis künstlerischkreative Kompetenzen attestieren, ändert nichts daran, dass Schulstunden abnehmen, Lehrer:innen nicht ausgebildet oder fortgebildet und die Schüler:innen eher mit Leerraum als mit Instrumenten, Liedern, Ideen versorgt werden.

»Musik zum Anfassen« ist daher eine Form von Hilfe zur Selbsthilfe, ein Projekt, das viele Kinder aus bildungsnahen, auch bildungsfernen Haushalten oft zum ersten Mal in ihrem Leben damit konfrontiert, dass die Welt auch Klang sein kann. Natürlich wären Instrumente und entsprechend Zeit, die man damit verbringen darf, überhaupt die Königsklasse des Engagements. Es geht aber auch basaler. Denn Musik ist nicht nur Violinkonzert und Popsong, sondern auch Erzählung. Jede Komposition ist eine Geschichte, selbst wenn an der Oberfläche zunächst wenig zu passieren scheint. Das Team von »Musik zum Anfassen« setzt mit dem Projekt in der Margarethe-Danzi-Grundschule wie auch bei den meisten anderen Initiativen genau an diesem Punkt an. Dabei geht es zum Beispiel um Materialien aus dem Alltag, wie Papier, Obstkisten, Schläuche, Rohre, mit deren Hilfe sich allerlei Geräusche und Klänge erzeugen lassen. Auf die Gefahr hin, dass die Kinder im Anschluss daran ihren Familien die akustischen Qualitäten der eigenen Wohnung verdeutlichen, werden sie von »Musik zum Anfassen« grundlegend und inspirierend mit der Möglichkeit vertraut gemacht, die eigene Welt zu hören.

Mit beachtlichem Erfolg: So steht etwa die Klasse 2c auf der kleinen Bühne, um unter Anleitung ihre erfundene Geschichte den Schulkameraden aus den anderen Klassen vorzuführen. Klarinettist Heinz Friedel dirigiert die Wagemutigen behutsam durch das selbst gemachte Werk. Es geht um das Anschwellen von Geräuschen wie bei Wind, um Trommeln wie bei Regen oder um ein Immer-leiser-Werden in der Stille. Im Wechsel mit den Darbietungen der Klassen spielen die Profis von »Musik zum Anfassen« Stücke von Mozart, Bizet und Strawinsky. »Wenn die Schüler durch ihr eigenes Spiel die Ohren geöffnet haben, hören sie auch besser der Musik zu, die andere machen«, ist die Erfahrung, die Christian Mattick mit seinen Projekten gemacht hat. Die Idee, Kinder auf spielerische Weise neugierig auf Musik zu machen, reicht dabei bereits drei Jahrzehnte zurück. Im Jahr 1991 hatten Mattick und andere Mitglieder des Kammerorchesters Schloss Werneck die Idee, an Schulen zu gehen und Konzerte zu geben. Doch im Laufe der Aktion stellte sich heraus, dass es unbefriedigend war, die Schüler nur zuhören zu lassen. Sie sollten einbezogen werden, möglichst aktiv, auch wenn sie selbst noch keine Erfahrungen mit Instrumenten gemacht hatten. »Um Musik zu machen, braucht es fast nichts«, sagt Matticks Kollege Tobias Weber mit einem breiten Grinsen. Und Philipp Kolb, der für den technischen Ablauf des Projekts zuständig ist, ergänzt ebenso inspiriert: »Man braucht eigentlich nur sich selbst.«

So entstand die Idee, über die eigenen gestalterischen Kompetenzen hinaus auch pädagogische Aspekte und vor allem die in nahezu jedem Menschen schlummernde Neugier über Präsentationsformen anzuregen, die etwas in die Hand geben, um damit gemeinsam Klänge zu erzeugen. Zwischenzeitlich waren die Gelder knapp, um die Projekte für »Musik zum Anfassen« auch verwirklichen zu können. »Jetzt läuft es wieder besser«, sagt Klarinettist Heinz Friedel, eine Folge der besonderen Förderung in und nach Zeiten von Corona, wobei in diesem Fall durch das übergeordnete und von der Landeshauptstadt München geförderte Projekt »Münchner Klang(G’)Schichten« zusätzliche Unterstützung bereitstand. Wenn auch noch immer ein Tropfen auf den heißen Stein, so ist doch immerhin einiges durch externes Engagement angestoßen worden, was die Politik für die Schulmusik gern aus nebeligen Sparzwängen oder schlicht künstlerischer Ignoranz unter den Tisch fallen lässt. Und manche junge Menschen, die durch »Musik zum Anfassen« die Welt der Klänge entdeckten, sind ihr auch später als Amateur oder Profi verbunden geblieben. Ein Gewinn, in vieler Hinsicht. ||

MUSIK ZUM ANFASSEN
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