Schön wie ein Lottogewinn: Die Tanzplattform Deutschland präsentiert in München die bemerkenswertesten zeitgenössischen Produktionen. Ein Gespräch mit Walter Heun über die Anfänge damals und positive Überraschungen heute.

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»Soul Chain«, von Sharon Eyal mit dem tanzmainz Ensemble erarbeitet, wurde mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet – zu sehen am 7. März im Residenztheater| © Andreas Etter

»Das wird eine echte Entdeckerplattform«, freut sich Walter Heun von Joint Adventures, der die biennale Tanzplattform Deutschland (TPD) in diesem Jahr ausrichtet. Zum zweiten Mal seit ihrer Gründung 1994 findet die internationale Schau der nationalen Tanzszene in München statt. »Es sind einige Künstler dabei, von denen ich höchstens wusste, dass sie existieren, aber deren Arbeit ich nicht kannte, bevor ich in den Sichtungsprozess eingestiegen bin. Oder ich kannte die Namen, habe sie in Produktionen anderer gesehen, wusste aber nicht, was sie selbst machen. So bin ich selbst durchaus verschiedentlich überrascht worden.« Verantwortlich dafür war eine sehr divers zusammengesetzte Jury, der neben Anna Mülter, Tanzkuratorin der Sophiensäle in Berlin, der Journalistin und Kuratorin Ingrida Gerbutaviciute aus Frankfurt, der Berliner und Istanbuler Soziologin und Kuratorin Gurur Ertem und Honne Dohrmann von tanzmainz auch Heun selbst angehörte.

»Es gibt andere Veranstalter, die sich von Dramaturgen vertreten lassen, ich wollte selbst gerne diesen Sichtungsprozess mitmachen. Früher, als Intendant des Tanzquartier Wien und in meiner Arbeit für das Nationale Performance Netz (NPN), habe ich auf den Plattformen viel gesehen, das ich schon kannte. Jetzt wollte ich wissen, ob und wie sich die Szene verändert. Auf die Reise gehen, so wie früher, zu Orten wie dem Kulturbahnhof Heidelberg oder dem Tanzhaus in Mannheim, oder wieder einmal in der Tafelhalle in Nürnberg oder im ada Studio in Berlin sitzen, ins Dock 11 gehen statt ins HAU. Das waren Erfahrungen, die ich unbedingt machen wollte, und es war schön, so positiv überrascht zu werden.«

Rund 18 Monate reiste die Jury und sichtete – stets nach dem Vier-Augen-Prinzip – die Stücke live oder auf Video, insgesamt 444 Produktionen. 15 davon, als Auswahl der »bemerkenswertesten Positionen«, werden zwischen dem 4. und 8. März in München gezeigt. Das Spektrum reicht (alphabetisch) von Saša Asentićbis Kat Válastur; vom Solo der Berlinerin Jule Flier (einer Auseinandersetzung mit den TonTänzen Valeska Gerts) bis zur Auftrags-Choreografie Sharon Eyals fürs und mit dem Ensemble von tanzmainz, die 2018 mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde. Mit »Unstern« ist auch ein Münchner, Moritz Ostruschnak, vertreten. Am 4 und 8. März präsentiert sich die Jury im Gespräch. Im Rahmenprogramm lädt das Goethe-Institut täglich um 10 Uhr ein zu Künstler*innengespächen und veranstaltet einen Arbeits-Tisch mit Meg Stuart (teils öffentlich zugänglich); auch gibt es eine tanzhistorische Fahrradtour. Und die Münchner freie Szene bietet drei Stadtspaziergänge an.

22 Jahre zuvor, im Februar 1998, war Heun schon einmal für die Münchner Ausgabe der TPD verantwortlich, doch seine Geschichte mit der Präsentation der deutschen Tanzszene reicht noch viel länger zurück. 1990 hatte er das Festival BRDance initiiert, das zeitgenössischen Tanz aus Deutschland erstmals bundesweit, in 15 Städten, präsentierte. Und es war Heun, der 1993 die Initial-Idee zur Tanzplattform hatte, aber es war eine gemeinsame Initiative, die sich bildete. Lorinna Niclas, die damalige Leiterin der Rencontres Chorégraphiques Internationales de Seine-St. Denis veranstaltete ihr (unter dem kürzeren Namen Bagnolet berühmt gewordenes) Treffen als Wettbewerb, und das war damals so etwas wie die Weltmeisterschaft im Tanz, mit einer Jury aus 30 Ländern und diversen VorauswahlPlattformen. Niclas bat Heun, Nele Hertling, damals Intendantin des Hebbeltheaters in Berlin, und Dieter Buroch, zu der Zeit Direktor des Mousonturms in Frankfurt am Main, jeweils eine kleine deutsche Auswahl in einem Studio zu zeigen. Auf Vorschlag Heuns taten sich die drei zusammen und stemmten 1994 in Berlin die erste Tanzplattform Deutschland mit 25 Künstler*innen. 1996 folgte Frankfurt, dann München.

Nach sechs Jahren wurde das Konzept geändert. Ko-Veranstalter in anderen Städten kamen hinzu, Hamburg, Leipzig, Düsseldorf, Stuttgart, Hannover, Nürnberg, Dresden, Essen, eine Jury wurde eingesetzt. Anfangs hatten sich die Veranstalter als Partner der Künstler verstanden und haben auch produziert: Rui Horta am Mousonturm, Jo Fabian als Artist in Residence am Hebbel, Micha Purucker mit Walter Heun. In der Szene, auch zwischen den Städten, pflegte man echten Teamgeist. »Damals, als wir angefangen haben, gab es ja auch kaum Jobs im Tanzbereich, man konnte nicht viel Geld damit verdienen. Für die ersten ›Tanztage München›1996, erinnert sich Heun, »habe ich von der Veranstaltergemeinschaft für die Festivalorganisation 1500 DM bekommen, bei der zweiten Ausgabe 1999 waren es 2000 DM, ich habe mir da aber auch 20 Prozent der akquirierten Sponsorengelder zusichern lassen. Siemens kam dann mit 20 000 DM ins Boot, so hatte ich 6000 DM am Ende; es waren aber auch eineinhalb Jahre Arbeit.« Inzwischen hat sich diese Situation deutlich verbessert. Auch der Bund fördert die Tanzplattform.

Was sich nicht geändert hat: die Internationalität der deutschen Tanzszene. »Die TPD war immer international, schon in Berlin war ein israelischer Künstler dabei, Joseph Tmim, es war der in Deutschland arbeitende Portugiese Rui Horta dabei, Wanda Golonka als Französin aus Düsseldorf, das sind nur die drei, an die ich mich jetzt spontan erinnere.« Heun beschreibt sie als internationale, in Deutschland lebende und arbeitende Community. Allerdings hat sich die Definition verändert: 2008 in Hannover konnte Rosemary Butcher als britische Künstlerin nicht gezeigt werden, obwohl sie von Heun in Deutschland produziert wurde (und auch hier probte, obwohl sie in England lebte). »Da gäbe es heute keine Probleme«, meint Heun, »früher hieß es, die Szene, die in Deutschland lebt und arbeitet. Heutige Definition: Die Produktion muss substanziell in Deutschland erarbeitet worden sein. Man kann das heute nicht so einfach mehr national abgrenzen. Die Künstler haben eine hohen Grad an internationaler Vernetzung erreicht, auch was ihre Lebenssituation betrifft – wo leben sie eigentlich? Sie leben quasi aus dem Koffer.«

Die TPD ist die hochkarätigste Veranstaltung in Deutschland, deshalb kommen auch viele Künstler*innen nach München, und traditionell natürlich etwa 300-400 Veranstalter und Kulturvermittler, die selbst im Jahr zwischen 100 und 200 Stücke sehen, viel reisen und ein hohes Vergleichspotenzial haben, die sind ein spezielles, kritisches Publikum. Und wollen
möglichst alles sehen, weshalb in den fünf dicht gepackten Tagen die meisten Produktionen zweimal oder mehr gezeigt werden. Doch auch wenn heuer 500 Kolleg*innen anreisen, sind für die Münchner, so versichert Heun, Kartenkontingente geblockt worden. ||

TANZPLATTFORM DEUTSCHLAND 2020
Verschiedene Spielorte| 4.–8. März
Informationen
Tickets: 089 5481818 oder online

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