Lucy Wilke und Paweł Duduś erforschen die befreiende Kraft ihrer besonderen Freundschaft und verkörpern dabei ganz nebenbei die totale Inklusion.

Die Freundschaft von Lucy Wilke und Paweł Duduś ist Grundlage für ihre künstlerische Arbeit | © Martina Marini-Mysterioso

Sex auf der Bühne, zumindest dargestellter, ist heutzutage omnipräsent, Sexualität von behinderten Menschen vielleicht schon etwas weniger. Echte Freundschaft als künstlerisches Forschungsfeld dürfte dagegen nach wie vor die Ausnahme sein. Dabei ist es durchaus naheliegend, dass in einer intensiven freundschaftlichen Begegnung Energien freigesetzt werden, die sich theatral formulieren lassen. »Scores that shaped our friendship« – »Aufgaben, die unsere Freundschaft geformt haben« heißt das Projekt, das die Münchner Performerin Lucy Wilke und der Tänzer Paweł Duduś gerade zusammen auf dem Schwere-Reiter-Gelände proben und für das Wilke eine Debütförderung der Stadt für freie Tanzschaffende erhalten hat.

Kennengelernt haben sich die beiden 2017 als Mitwirkende bei der freien Produktion »Fucking Disabled« in der Regie von David von Westphalen. Damals ging es darum, das Titelthema »Vögelnde Behinderte« spielerisch (und dabei auch ein wenig pädagogisch) aus der Grauzone umfassender Verunsicherung zu holen. Wie funktioniert Annäherung über die vermeintliche Schranke einer Behinderung hinweg? Was gilt es zu beachten und über welche Bedenken darf man sich ruhig hinwegsetzen? Ein faszinierendes Paar waren die beiden schon da, mal im Barockkostüm und Reifrock, oder einmal hing Duduśin einer Szene fast nackt in Bondageseile verschnürt an einem Haken und wurde von Wilke, die ihn in ihrem Rollstuhl umkreiste, langsam und lustvoll befreit.

Bewegen und bewegt werden, Aktivität und Passivität in wechselnden Konstellationen, Sensibilität und achtsame Sexualität sind nach wie vor zentrale Momente ihrer künstlerischen Recherche, zu der inzwischen eine produktive Freundschaft hinzugekommen ist – weit mehr als das Thema Behinderung. »Darüber sind wir inzwischen ziemlich hinausgewachsen«, meint Wilke, die 1984 mit einer neuromuskulären Erkrankung geboren wurde, ihre Kindheit in einem bunten, musikalischen Umfeld in einer Wohnwagensiedlung im Münchner Norden verbrachte und seit vielen Jahren zusammen mit ihrer Mutter Gika im Duo Blind & Lame auch erfolgreich als Sängerin zu hören ist. Als Schauspielerin trat sie in letzter Zeit unter anderem in »Phaedra« von Monster Truck und im Rahmen der immersiven Performance »Medusa bionic rise« der Gruppe The Agency als posthumaner Prototyp auf. Für sich stellt sie fest: »Ich muss Behinderung nicht mehr unbedingt als solche thematisieren. Ich denke, dass das, was Paweł und ich machen, ohne es jemals auszusprechen, die totale Inklusion ist, und zwar von allem, nicht nur von meiner Behinderung. Das ist ein bisschen wie eine Utopie. So etwas zu zeigen, halte ich für sinnvoller, als immer auf der Behinderung rumzureiten. Die Art, wie wir miteinander umgehen, zeigt schon das, was man sich eigentlich wünscht, auch gesellschaftlich. Was Paweł und mich miteinander verbindet, ist Neugier, Verspieltheit, Ausprobierenwollen und natürlich auch die sinnliche Wahrnehmung dabei.«

Für den in Polen geborenen Duduś, der sich zwischen Brüssel, Wien und Berlin mit seiner tänzerischen Arbeit auch in queeren Communities bewegt, ist es »eine erweiterte Form von Intimität«, die ihn mit Lucy verbindet, »eine seltene Vision von Freundschaft, die keine Grenzen setzt und sich in viele Richtungen weiterentwickeln kann.« Nicht der Norm zu entsprechen und gleichzeitig nach einem bestimmten Muster gelabelt zu werden, sind Erfahrungen, die beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, gemacht haben. »Mit Lucy habe ich das Privileg, dass ich ganz ich selbst sein kann, verletzlich und stark im selben Moment, offen als Person«, erklärt Duduś. »Dazu braucht es Mut. Die Arbeit hat auch mit Sexualität zu tun und sexuellem Ausdruck, womit ich mich schon länger beschäftige. Ich sehe es als Chance, mich und meine sexuelle Identität künstlerisch auszudrücken. Das hätte ich vor ein paar Jahren nicht gekonnt. Um mich zu befreien, musste ich erst den gesellschaftlichen Druck durchbrechen.« So basiert das, was die beiden gerade erarbeiten, auf jahrelanger Beschäftigung mit diesen Themen. Bei einem Workshop über die »Erotik der Einschränkung«, den Duduś und Wilke im Anschluss an das erste Theaterprojekt zusammen konzipierten, ging es ebenfalls um künstlerische Ausformungen, eine Art Choreografie von Micromovements, die sie nun auch im neuen Stück in einem offenen Setting weiterentwickeln, wobei keineswegs nur eine einseitige körperliche Abhängigkeit besteht.

»Es ist schon ein gegenseitiges Geben und Nehmen«, betont Wilke. »Damit haben wir uns in dem Workshop viel beschäftigt und das ist auch ein wichtiger Punkt in unserer tänzerischen Arbeit. Es war uns total wichtig, dass nicht nur Paweł mich dauernd bewegt wie eine Puppe, sondern dass wir uns auch abwechseln. Klar kann ich Paweł nicht so bewegen, wie er mich, es geht eher um eine aktive Haltung, zum Beispiel, dass wir etwas zusammen machen, was ich auch alleine machen kann. Auch wenn es kleine Bewegungen sind, finden wir immer wieder symbiotische Bewegungen, bei denen es nicht klar ist, wer wen bewegt.« Um das, was man von außen nicht sehen kann, zu kommunizieren und auch die Innenperspektive zu zeigen, haben sie Texte geschrieben, manche davon sind notwendige Anweisungen, um Lucy neu zu positionieren, und manche sind einfach aus Spaß entstanden. Zusammen mit den beiden wird die Musikerin Kim Ramona Ranalter während der Performance präsent sein und auch mit den Zuschauern soll es spielerische Interaktionen geben. Wie genau, steht noch nicht ganz fest, aber es wird sicher abwechslungsreich werden. »Wir haben während der Vorbereitung sehr exzessiv gefeiert und dabei viel Material entwickelt«, lacht Wilke mit ihrer ansteckenden Energie, mit der sie sicher auch in Zukunft jedem Labeling spielend entkommen wird. ||

SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP
Schwere Reiter| Dachauer Str. 116 | 13., 15., 16. Feb.| 20 Uhr
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