Philosophischer Fragenkatalog in Thrillerform: Ridley Scott gelingt mit »All the Money in the World« eine Parabel über die Impotenz des Kapitals.
J. Paul Getty, der reichste Mann der Welt, wäscht seine Unterhosen gerne selbst. Über der opulenten Wanne seines römischen Hotelbadezimmers baumelt die Weißwäsche zum Trocknen. Sein Enkel, der ihn zum ersten Mal sieht, starrt ihn fragend an, doch der greise Patriarch lächelt nur. Warum Reinigungskosten bezahlen, wenn man das für ein paar Lire selbst erledigen und steuerlich absetzen könne. Sagt er, der erste Milliardär der Menschheitsgeschichte.
»All the Money in the World« heißt Ridley Scotts neuester Film über die alte Frage, wie viel Geld ein Mensch zum Leben braucht. Es geht aber auch um starke Mutter- und schwache Vaterfiguren, um Tod und Vermächtnis. Und Scott wäre natürlich nicht Scott, gelänge es ihm nicht, diesen Fragenkomplex aus der praktischen Philosophie als Thriller aufzubereiten. Im Zentrum von »All the Money in the World« steht die Entführung von Gettys Enkel John Paul III. Eines Nachts, einige Jahre nach jenen Lektionen in Sparsamkeit, stolziert der Teenager entlang der ziegelroten Stadtmauern Roms. Selbstbewusst, mit wallend blondem Haar, parliert er mit italienischen Huren, führt die Zigarette mit der dynastischen Grandezza eines Kronprinzen.
Ein Getty zu sein, das hatte ihm sein Großvater eingebläut, sei etwas Besonderes. Denn die Kraft des Geldes sei der Gravitation vergleichbar, sie beuge selbst noch das Licht. Plötzlich quietschen Reifen,
und vermummte Männer zerren Getty in einen VW-Bus. Tags darauf die Lösegeldforderung: 17 Millionen Dollar. Doch die Botschaft des prinzipientreuen Ölmagnaten ist klar: Er wird nicht zahlen. Auch in der Entstehung ist »All the Money in the World« ein Film der Prinzipien. Nach dem Bekanntwerden der Belästigungsvorwürfe gegen Kevin Spacey bewies der gerade 80 Jahre alt gewordene Ridley Scott Chuzpe: Er schnitt den zweifellos für die Rolle des Patriarchen maßgeschneiderten Spacey heraus und drehte kurzerhand all dessen Szenen mit Christopher Plummer nach. Geschadet hat das dem Film keineswegs. Höchstens die Entscheidung, Plummer und einer als Schwiegertochter ebenso brillanten Michelle Williams, einen Mark Wahlberg zur Seite zu stellen, dessen Brustmuskelspiel zuweilen vielschichtiger ist als seine Mimik. Als Privatermittler Fletcher Chase, der Getty junior möglichst leise aus den Händen der Entführer zurückholen soll, nimmt er gerne einmal die Sonnenbrille ab, kneift die Augen zusammen und setzt die Brille wieder auf.
Doch ohnehin ist der Thriller nur Scotts Vorwand für eine vielleicht letzte, große Parabel. Als einsamer Krösus wankt Getty, dem über seinen Geschäftssinn jeder Menschlichkeitssinn abhandengekommen ist, durch seine Objektwelt. Verloren in einem Palast voll mit Vermeers und Leonardos, zwischen Büsten von Perikles, Cato und seiner selbst bricht er zusammen, vor einem Madonnenbild. Ridley Scott, der bereits so viele dunkle Bilder vom Menschen gemalt hat, versucht sich hier an seiner eigenen Interpretation des Citizen Kane. Ein bisschen weniger komplex vielleicht, aber sehenswert allemal. ||
ALL THE MONEY IN THE WORLD
USA 2017 | Regie: Ridley Scott
Mit: Michelle Williams, Christopher Plummer, Mark Wahlberg u.a. | 133 Minuten
Kinostart: 15. Februar
Trailer
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