Das Filmhaus Nürnberg zeigt von Januar bis März eine Edgar Reitz-Werkschau. Über das Schaffen eines Mannes, der Zeit und Heimat für das filmische Erzählen neu entdeckte.
Edgar Reitz erzählt gerne die Geschichte vom Schneider Berblinger und dessen Traum vom Fliegen. Denn retrospektiv wohnt dieser ein so wunderbar übertragener Sinn inne. Ende des 18. Jahrhunderts avanciert der UlmerFlugpionier zur Kuriosität an den Höfen. Doch als seine Apparaturen nicht richtig fliegen wollen, wird er wieder verjagt wie ein Hund. Reitz verfilmt Leben und Abstieg Berblingers 1978. Ein Film, der genauso wenig wie sein Protagonist abheben wollte. »Der Schneider von Ulm«, Reitz’ bis dato teuerstes Filmprojekt mit aufwendigen Nachbauten der Fluggeräte und barockem Setting, wird ein finanzielles Desaster. Doch die Analogie geht weiter: In der letzten Szene liegt Berblinger auf einem
Kutschwagen, zwischen Tand und Krempel geworfen, und beginnt sofort wieder mit den Trümmern zu basteln. Genauso der damals schon 46-jährige Reitz. Zurückgeworfen auf sein Rohmaterial kommt ihm die entscheidende Eingebung seiner Karriere: das dramatische Erzählen durch das epische zu ersetzen. Tatsächlich verabschiedet sich Reitz mit dem »Schneider vom Ulm« aber nicht nur von einer Erzählform, sondern auch von dem Kino des übertragenen Sinns.
Ein Jahrzehnt zuvor dreht Reitz in Berlin. Zigarettenrauch liegt in der Luft und junge Schauspieler werfen bedeutungsschwangerFremdwörter in die Schwaden. Der Regisseursitzt stoisch und etwas ratlos in der Runde. Als ein Verfasser des Oberhausener Manifests, als einer, der mit Leuten wie Alexander Kluge Papas Kino für tot erklärt hatte, war er Ende der Sechziger unvermittelt selbst unter Verdacht geraten. Mit Mittedreißig galterden Jung-68ern bereits als arrivierter Rebell, als Teil des Establishments. Warum will dieser Reitz, während sich allerorts die linke Bewegung Bahn bricht, eine Adaption von E.T.A. Hoffmanns »Das Fräulein von Scuderi« drehen? Die Erzählung vom Goldschmied Cardillac, der mordet, um seine Geschmeide zurückzubekommen? Auf dem Set beginnt es zu brodeln. Der Regisseur als autokratische Figur wird kritisiert, und Reitz muss Einstellungen, Figurenanlage, Deutung des Narrativs mit Schauspielern und Filmteam basisdemokratisch diskutieren. Er fügt sich und beginnt die Debatten, zum Teil heimlich, zu filmen. Eines Tages verordnet die Belegschaft Drehstopp. Eine gewisse Ulrike Meinhof, die gerade »Bambule«, einen Film von eminenter politischer Relevanz drehe, benötige die Kamera dringender. Reitz lenkt wieder ein, gibt die Kamera weg.
Es ist vielleicht der erste Glücksfall in Reitz’ Karriere. Damals wollte er noch, wie er heute erklärt, Filme mit einer philosophischenBotschaft machen. In »Cardillac« aber wurde der symbolische Ansatz sabotiert. Der Film leidet unter den fehlenden Drehtagen und entwickelt doch aus diesen Umständen heraus einen eigentümlichen Sog. Denn Reitz verwebt im Schnittraum die Aufnahmen derDebatten am Set mit der parabelhaften Erzählung um den wahnsinnigen Goldschmied. Das Thematisieren von Film und Figuren wird selbst Teil des Werks, doch anders als etwa bei Godard meint dies weder eine formale Provokation noch ein politisches Statement. Gleichnis und Ideologie heben sich gegenseitig auf, ohne diese Filter ist es die Zeit selbst, die von der Leinwand spricht. Erstmals zeigt sich in »Cardillac« dieses spezifische Gefühl eines Mannes, der sich zwischen zwei Zeitenwenden befindet. Der Film bereitet Reitz’ »Entdeckung des Epischen« vor, indem er erstmals der Zeit ihren Raum zugesteht. Diese Entdeckung des Epischen für den Film geschieht während der Musterschau zum »Schneider von Ulm«. »Nach einem halben Jahr Dreharbeiten kamen wir mit zehn Stunden Filmmaterial zurück, das wir dann mit meinem Team und Freunden am Stück gesichtet haben. Am Ende hatte keiner der Anwesenden mehr ein Gefühl für Zeit, wir waren alle völlig in dieses ungeschnittene Material eingetaucht.« Im Nachhinein habe er realisiert, dass erst das Vorhaben, alles auf 90 Minuten zu kondensieren, den Film zerstört habe. »Zehnstündig hätte es wunderbar funktioniert. Doch mit Hilfe der Dramaturgie habe ich diesem Film den Geist ausgetrieben.«
In dieser Krise Ende der Siebziger zerlegt Reitz die dramaturgischen Prinzipien des Kinos und beginnt sein Projekt »Heimat«, an dem er drei Dekaden arbeitet. Über dreißig Spielfilme widmet er der Geschichte um die Hunsrücker Familie Simon. Eine Auseinandersetzung mit Deutschland vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende. Reitz erzählt diese Geschichte nun ohne symbolischen Ballast, ohne klassische Spannungsbögen, ganz nah am Alltag der Menschen, indem er seinen Rhythmus im subtilen Wechsel von Haupt- und Nebenhandlung findet. Trotz dieses Tons des Unspektakulären wird Reitz’ Projekt zu einem extremen Unterfangen. Für den zweiten Teil der Saga sprengt er alle konventionellen Grenzen des Filmemachens. »580 Drehtage hintereinander. Da gibt es Monate, in denen man vergisst, in welchem Jahr man sich bewegt«, so Reitz. »Es bedarf einer Todesverachtung, um gewisse Punkte überschreiten zu können.« Edgar Reitz gehört zu jener Generation deutscher Filmemacher, die eine besondere Kondition auszeichnet, eine Leidenschaft für das Extreme. Werner Herzog etwa reiste für seine Filme in die Anden, in den Dschungel, in Salzwüsten. Reitz sucht dieselbe Herausforderung: nicht im Raum, sondern in der Zeit. ||
EDGAR REITZ – DIE GROSSE WERKSCHAU
5. Januar bis 4. März| Filmhaus Nürnberg
Termine und Spielzeiten
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