Gleich drei Theaterproduktionen erzählen im Dezember von den Traumata verfolgter jüdischer Menschen, die die Nazizeit überlebten – und dem Antisemitismus der Nachkriegszeit, der bis heute andauert.

REISE INS UNGEWISSE
Auf der fast leeren Bühne stehen nur zwei Stühle auf einem flachen Podest. Zu leise flirrenden Klängen (von Severin Rauch) klappen auf der Rückwand zwei Augen auf und zu – wie von einem Kind gezeichnet. Blicken wir dadurch auf die Vergangenheit oder ist es Big Brother? Ein lauter Knall ruft Jacob und Erna
herbei – sie rätseln, was das war. Und erinnern sich, dass sie endlich packen sollten für die Reise am nächsten Tag. So beginnt »Rivka« von Judith Herzberg, mit dem die Schauspielerin Sophie Wendt ihr Regiedebüt im TamS gibt.

Die Eheleute öffnen Klappen im Podest, einem liegenden Kleiderschrank (Bühne: Claudia Karpfinger, Katharina Schmidt), und beginnen, ihre Kleidung zu sortieren. Nur eine Tasche für jeden. Aber ihre Gedanken sind bei der kleinen Tochter Rivka, die sie für ihre Abwesenheit einer jungen Frau anvertraut haben. Wird diese Geertje gut für sie sorgen? Soll man ihr noch eine Tasche mit Kinderkleidern bringen? Wird Rivka sie danach noch erkennen? Sie wissen ja nicht, wie lange sie wegbleiben. Und dann sind da noch die »Ratschläge für ursprüngliche Eltern«: Alle Existenzbeweise eines Kindes absolut zu vernichten. Keine Briefe zu schreiben. Man ahnt, dass die Reise keine freiwillige ist.

Die Eltern der heute 91-jährigen niederländischen Schriftstellerin Judith Herzberg wurden 1943 nach Bergen-Belsen deportiert (und überlebten), während sie und ihr Bruder getrennt bei nichtjüdischen Familien Unterschlupf fanden. Herzberg hat sich immer wieder mit der Zeit des Holocaust beschäftigt und zahlreiche
Preise für ihre Stücke erhalten. »Rivka – ein lauter Knall« schrieb sie vor zehn Jahren, uraufgeführt wurde es 2016 in Amsterdam, die deutsche Erstaufführung war 2022. Herzberg datiert das Stück: 1942. Damit ist klar, dass hier ein jüdisches Ehepaar auf seine Deportation wartet und sein Kind vorher in Sicherheit gebracht hat. Die Regisseurin lässt das Datum weg, sie will Assoziationen zu heutigen Flüchtlingen und Verfolgten offenhalten. Ihre Textkürzungen nehmen dem Text einiges von seiner Sprunghaftigkeit und Hektik.

Sophie Wendt hat für diese minimalistisch konzentrierte Aufführung zwei starke Schauspieler: Irene Rovan als Erna schwankt zwischen Fahrigkeit und verzweifelter Zukunftshoffnung. Kann sich nicht entschließen, was sie einpacken soll, muss immer wieder auf die Toilette, faltet fürsorglich Jacobs Pullover. Helmut Dauner wirkt gleichzeitig gefasst und hilflos. Wenn Jacob vorschlägt, Erna solle untertauchen, oder wenigstens den Ehering ablegen, weiß er genau, was ihnen droht. Misstrauen haben sie gelernt: Hat die Nachbarin die Suppe aus Mitleid gebracht oder um zu spitzeln? Hinter ihren Alltags-Halbsätzen lauern Schmerz und Angst. Und die Frage: »Wie haben wir es so weit kommen lassen? Schritt für Schritt?«

DER ABGRUND HINTER DER IDYLLE
»Überlebende sollen erzählen, damit die Geschichte Gesichter bekommt.« Das könnte als Motto über dem Themenschwerpunkt »Jüdisches (Über)leben nach 1945« der Kammerspiele stehen. Dafür schrieb Lena Gorelik das Erinnerungsmosaik des ungarischen Juden Mordechai Teichner, der 1944 mit 15 Jahren mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert wurde, dann über Mühldorf ins Außenlager Dachau in Feldafing kam. Was er in der Stunde Null dort erlebte, nannte er eine »Zeit ohne Gefühle«. Gorelik nahm das als Titel. Die dokumentarerprobte Regisseurin Christine Umpfenbach, die sich immer wieder mit der NS- und Rechtsradikalen-Thematik beschäftigt, hat es als spannendes
Stimmungsbild eines Ortes inszeniert.

Feldafing am Starnberger See ist der Knotenpunkt der Aufführung, obwohl Mordechai dort nur kurz war. Im idyllischen, beliebten Ferienort hatten die Nazis in enteigneten jüdischen Villen 1934 eine NS-Reichsschule errichtet, in der Jungs zu Soldaten erzogen werden sollten. Daneben gab es ein Außenlager des KZ
Dachau, von dem danach kaum ein Feldafinger Bürger gewusst haben will. Nach dem Krieg entstand dort ein Lager für Displaced Persons mit 2000 Betten, zeitweise waren 6000 Personen untergebracht. Wie Mordechai Teichner nach seiner Befreiung.

Walter Hess (vorne) als alter Mordechai | © Julian Baumann

Dessen Sohn Meir stellte das Material, auch Filmaufnahmen zur Verfügung, ist selbst in Videos zu sehen und kam zur Premiere nach München. Gorelik verknüpft sie mit anderen historischen Quellen und Zeitzeugen-Aussagen. Nuphar Barkols Bühne zeigt ein sparsam möbliertes Zimmereck, dahinter sieht man Bilder von Feldafing und der Natur. Fünf Schauspieler spielen abwechselnd alle Rollen und diskutieren auch immer wieder darüber: Mal möchte Christian Löber keine Nazi-Sätze mehr sprechen müssen, sondern lieber Mordechai sein. Den übernimmt weitgehend der herausragende Ensemble-Doyen Walter Hess. Videos, historische Zitate, Metaebene mischen sich. Mordechai selbst, der nach Israel ging und 2022 mit 92 Jahren starb, sowie sein Sohn Meir sind zu sehen. Hess, Löber, Luis Brunner, Anna Luster und Konstantin Schumann switchen zwischen den Figuren, Johanna Kappauf fungiert als Moderatorin. Eingestreut sind auch AfD-Zitate, die offen die Parallelen zur Faschismus-Ideologie beweisen. Die Antisemiten waren mit der Stunde Null ja nicht weg, den Lagerbewohnern schlug noch unverhüllter Judenhass entgegen. Die Diskrepanz zwischen Wohlstandsidylle mit Nazimentalität und den Elendserfahrungen der Lagerbewohner ist erschreckend, der 90-minütige Abend durchaus beklemmend, aber sehr packend inszeniert und gespielt. Mordechai und sein Sohn Meir senden Botschaften, die mahnend und versöhnlich sind.

ALS KIND IM VERNICHTUNGSLAGER
Wer war Alexander Shmuel Schneider? Das ergründen der Münchner Theatermacher Burchard Dabinnus und seine israelische Co-Autorin Ilanit Ilia in einem auf mehrere Teile angelegten Projekt. Der erste wird im Dezember im TamS gezeigt.

Schneider, geboren 1932, war ein Holocaust-Überlebender. Er stammte aus dem ungarisch-ukrainischen Grenzgebiet. Mit zwölf Jahren kam er 1944 ins KZ, ein Jahr später wurde er befreit. Seine Lagerzeit hat er später beschrieben. Diese Aufzeichnungen erhielt Ilanit Ilia vom Wissenschaftler Michael Heinzmann, der das Grab von Schneiders Vater entdeckt hatte. Ihre deutsche Übersetzung soll nächstes Jahr erscheinen. Die Historikerin mit Schwerpunkt Kulturwissenschaft hat in Israel und Deutschland studiert. Seit 27 Jahren lebt sie in München, gibt VHS-Kurse in Hebräisch, arbeitet freiberuflich an kreativen Projekten und hält Kultursalons ab.

Burchard Dabinnus kennt man in der Münchner Theaterszene als Schauspieler, früher oft im TamS. Einige Jahre war er am Residenztheater engagiert, seit Langem ist er auch BR-Sprecher. Dazu leitet er die integrative Theatergruppe Apropos. Und interessiert sich immer mehr für dokumentarische Arbeit. 2021 zeigte er seine eindringliche Recherche zum Femizid an seiner Cousine. Dieser Mord hat ihn getriggert, sich mit dem Thema Gewalt zu beschäftigen, aber auch mit der eigenen Familiengeschichte, in der die NS-Zeit mit Schweigen übergangen wurde. Eine TamS-Mitarbeiterin brachte ihn mit Ilanit Ilia zusammen. Seit eineinviertel Jahren arbeiten sie schon an ihrem Projekt, denn Schneider wollte seine Erinnerungen auf Deutsch veröffentlicht wissen. 1945 landete er in einem Lager für Displaced Persons, ergatterte als 13-Jähriger von einem US-Offizier einen Zuschauerausweis für die Nürnberger Prozesse, weil er wissen wollte, wie die Nazis aussahen. Seine Schwester ging nach Amerika, er baute dort eine eigene Firma auf, ohne Englisch zu sprechen. Und pendelte umtriebig zwischen den USA und Israel. Mit seiner Frau, seiner großen Liebe, hatte er zwei Kinder. Als sie Anfang der 1990er starb, begann er am Tag der Beerdigung zu schreiben – auf ihren Wunsch. Es wurde ein episches Gedicht, in Gesängen und oft Versen. Er starb 2018.

Dabinnus und Ilia schöpfen aus dreierlei Quellen: Schneiders Texten, Interviewausschnitten und Transkripten seiner Erzählungen gegenüber Freunden. Von Dr. Heinzmann gibt es neun Stunden Filmmaterial. Das Theaterprojekt soll im ersten Teil die Kindheit vor der Schoah beleuchten und das trickreiche Überleben in verschiedenen Lagern. Fasziniert hat beide Macher Schneiders »unglaublicher Wille zu leben. Seine innere Stärke und Kraft, seine Warmherzigkeit. Das ist das Positive an einem Bericht über eine Katastrophe. Wir wollen seinen Geist transportieren, auch für Kinder und Jugendliche.«

Ihre »kleine Inszenierung« spielen sie selbst, wollen damit Neugier wecken und das Gespräch mit dem Publikum suchen. Denn ihnen geht es nicht um offizielles Gedenken, sondern um lebendige Erinnerung an eine außergewöhnliche Persönlichkeit.||

RIVKA
TamS | Haimhauserstr. 13a | bis 13. Dezember | Mi bis Sa 20 Uhr
Tickets: 089 345890 | www.tamstheater.de

ZEIT OHNE GEFÜHLE
Kammerspiele | 19., 20. Dezember | 19.30 Uhr
Tickets: 089 23396600 | www.kammerspiele.de

I HAVE A STORY FOR YOU
TamS | Haimhauserstr. 13a | 18., 19. Dezember | 19 Uhr
Tickets: 089 345890 | www.tamstheater.de

 


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