Früher absolvierten beim IMAL benachteiligte junge Erwachsene eine Ausbildung zum Musicaldarsteller oder in Bildender Kunst. Die Verantwortlichen des Musiktheaters entscheiden heutzutage hauptsächlich nach dem Talent über eine Teilnahme. Ein Porträt zweier außergewöhnlicher Projekte.
Max hat sein Herz verloren. Weinen kann er ohne dieses Organ, in dem angeblich alle menschlichen Emotionen sitzen, natürlich nicht mehr. Mit gesenktem Kopf schlurft er über die hell erleuchtete Bühne; niedergeschlagen und nachdenklich, aber nicht verbittert oder verzweifelt. Dieser schüchterne Max ist ein sanfter Mann. Die 21-jährige Ella Vorländer spielt ihn – und in ihre weiche Altstimme kann man sich auch als heterosexuelle cis Frau spontan verlieben.
Cis oder trans, gay oder lesbian, queer, inter- oder asexuell – die Auseinandersetzung mit sexuellen Orientierungen und unserer Geschlechtsidentität ist seit einiger Zeit komplizierter geworden. Bei jedem Christopher-Street-Day zeigen Menschen ihre Diversität. Sie bringen zum Ausdruck, was Judith Butler in den Neunzigerjahren Genderperformativität nannte: Das Geschlecht ist nicht nur biologisch begründet, es wird durch Handlungen konstruiert. Durch die Art, wie unsere Körper sich im Raum bewegen und mit welcher Stimme wir zu anderen sprechen, verhalten wir uns weiblich oder männlich, ob wir das bei der Geburt nun tatsächlich waren oder nicht.
Die Musiktheaterdarsteller des IMAL haben sich dafür entschieden, diese Performativität durch ihre Performance wieder zu dekonstruieren. Männer wie der Philosoph Plankton – auf eine filigran-schwebende, bezaubernd-verträumte Weise dargestellt von Laura Cecilia Ziemann –, der ruppige Richter Trichter oder der rationale Max sind genderfluide angelegt. Bei einigen Vorstellungen übernehmen Frauen solche Rollen, bei anderen Männer. »Uns war wichtig, dass wir uns nicht auf ein Geschlecht festlegen«, sagt Ella Vorländer, die aus Köln nach München gezogen ist, um ihre zweijährige Ausbildung zu absolvieren. Sie und die anderen Darsteller machen Stereotype erkennbar, ohne das Geschlechterverhältnis unnötig zu beschweren – und eben dies ist der größte Verdienst von »Versucht!«, wie die jüngste Produktion des IMAL heißt.

Foto: Johannes Köllner, IMAL
In allen Aufführungen gibt es Mehrfachbesetzungen, damit sich alle gleichermaßen präsentieren können. Songs, Tänze, die Choreografie und das Libretto entwickeln die 20 bis 30 Teilnehmer jeweils im Team. Worum es inhaltlich geht, ist zweitrangig. Was zählt, ist die künstlerische Qualität. Der Gedanke, als Gemeinschaft etwas zu schaffen und mit Hilfe eines Kollektivs seine individuelle künstlerische Persönlichkeit zu entwickeln, war von Anfang an ein Teil des Konzepts.
Die Komponisten Dick Städtler und Vridolin Enxing riefen das International Munich Art Lab zusammen mit dem 2017 verstorbenen Schauspieltrainer Theo König ins Leben. 1999 feierte ihr erstes Stück, die »Westendopera«, auf dem Tollwood Premiere, mit 26 Jugendlichen aus zwölf Nationen. Viele von ihnen hatten traumatische Erfahrungen mit Drogen oder häuslicher Gewalt gemacht. Vridolin Enxing und seinen Mitstreitern ging es primär darum, Teilhabe zu ermöglichen. Sozialpädagogen halfen den Teilnehmern bei Bewerbungen und unterstützten sie in Krisen. Vridolin Enxing hatte linke Ideale: Als Mitglied der Politrockband »Floh de Cologne« war er zuvor durch Deutschland getourt, um Menschen für den Sozialismus zu gewinnen. 2022 zog er sich aus dem Management zurück.
Seit 2023 leiten Claudia Müssig, Kilian Freiberger und Andreas Hartmann das Projekt. »Wir möchten uns stärker auf die Talente konzentrieren«, sagt Andreas Hartmann, der selbst Teilnehmer war. Hinter Hartmanns Aussage steht nicht nur ein hoher Anspruch an das Ergebnis, sondern auch der Wunsch, eine positive
Diskriminierung zu vermeiden. »Mir hätte es auch nicht gefallen, wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich nur wegen einer Benachteiligung genommen worden bin«, sagt er. Die Proben finden in der Halle C auf dem Areal des Gasteigs in der Hans-Preißinger-Straße statt. Wer zusieht, den rührt der ehrliche, engagierte Umgang von Regisseur Kilian Freiberger und dem musikalischen Leiter Andreas Hartmann mit den Darstellern. Auch gegenseitig kritisieren sich die jungen Leute offen, aber respektvoll. Dieses konstruktive Miteinander zeigt, dass sich in den vergangenen 24 Monaten ein Vertrauensverhältnis zwischen allen Beteiligten entwickelt hat, das dem alten Geist nach wie vor entspricht.
Noch 19 angehende Musicaldarsteller sind dabei, 27 haben angefangen. »Einigen war es zu hart, Vollzeit auf der Bühne zu stehen, andere sind aus persönlichen Gründen abgesprungen«, sagt die 21-jährige Marlene Gfrörer. Bei den Besprechungen gibt sie ihren Kollegen am meisten Feedback, durchaus besonnen, aber mit Verve. Ihrer zierlichen Gestalt sieht man an, dass sie schon Tanzunterricht hatte, bevor sie zum IMAL kam. »Ich habe mich an Schauspielschulen beworben, aber es hat leider nicht geklappt«, sagt sie mit fester Stimme. Nach einer Infoveranstaltung, die als Kennenlernen gedacht und für alle obligatorisch ist, fing Marlene Gfrörer Feuer. Nun, nach zwei Jahren Bühnenerfahrung, wird auch ihr Traum wahr: Nach dem IMAL startet sie an einer Schauspielschule in Regensburg.
In der Bildenden Kunst fördert ein zweites Projekt namens IMAL junge Menschen. Seit 2014 ist es eigenständig. Ein Teil der Teilnehmer arbeitet Vollzeit in einer Halle im Kreativquartier am Leonrodplatz, ein anderer in Haidhausen. Unter dem Namen IMAL firmieren mehrere Aktivitäten des Trägers Kontrapunkt gGmbH. Die Verantwortlichen initiieren Zwischennutzungsprojekte und organisieren eine Werkschau, bei der alle Teilnehmenden ihre Arbeiten vorstellen. Die Ausbildung dauert ein Jahr und versteht sich als Unterstützung in einer Orientierungsphase. »Wir möchten unseren Teilnehmern das Handwerkszeug vermitteln, damit sie danach entscheiden können, was sie am meisten interessiert«, sagt Lukas Linner vom Leitungsteam.
In der Selbstdarstellung findet man einen Satz von Maxim Gorki, der für beide Projekte gelten könnte. »Die Wissenschaft ist der Verstand der Welt, die Kunst ihre Seele.« Weil das stimmt, ist es kein Wunder, dass so mancher Zuschauer – genau wie der junge Max – sein Herz verliert. An die charmanten Künstler, Sänger, Tänzer und Musiker. ||
IMAL UND IMAL MUSIKTHEATER
Infos zu Workshops und Ausbildungen:
www.imal-musiktheater.de | www.imal.info
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