Als Poetry Slammer wurde er deutscher Meister. Mit seinem Debüt »Am Ende bleiben die Zedern« feierte er erste Erfolge als Erzähler. Auch sein zweiter Roman, »Ein Lied für die Vermissten«, gilt den Opfern des Bürgerkriegs im Libanon. Die interkontinentale Geschichte »Frau im Mond« beendet nun die Trilogie auf fulminante Weise, ist doch einzigartig und macht Pierre Jarawan zu einem Meisterschüler der Geschichtenerzählung, im Arabischen »Hakawati« genannt.
Pierre Jarawan
Vom Spoken Word zum Hakawati

Pierre Jarawan | © Maximilian Heinrich
Gleich der erste Satz trifft: »Die Geschichte, wie ich sie kenne, geht so.« Von Anfang an handelt »Frau im Mond« vom Erzählen und Suchen. Und weil Aventiuren, einst ritterliche Bewährungsproben, heute auch weiblich besetzt sind, ist Lilit Pierre Jarawans Heldin und Erzählerin, die Tochter und Enkelin, ein Zwilling in der Familie El Shami, ein Nachtgeist, »die andere Seite des Mondes«, wie ihr Name sagt. Zwillingsschwester Lina folgt Walen in Meerestiefe, Lilit sucht im All.
Sie ist geprägt von einem doppelten Verlust, erst später erfahren wir vom Tod der Eltern, vom Schicksal ihrer Großmutter, dem Gedächtnis des Körpers und genetisch vererbten Traumata. Zunächst findet Lilit nur Leerstellen in der Geschichte ihrer Familie in Montreal mit Wurzeln im Libanon: War der 100-jährige Großvater, der auf dem Dach der Seniorenresidenz New Hope eine Explosion anzettelte, tatsächlich in den 60er Jahren maßgebend in der Raumfahrtforschung des Libanon und der Raketenserie »Cedar«? Wer war Anoush, seine Frau, die schon vor der Geburt der Zwillinge Lina und Lilit starb und einen wundersamen Raketenteppich hinterließ? Wo ist mein Platz in diesem Reigen, fragt Lilit.
Ihre Recherchen führen nach Beirut, wie schon Pierre Jarawans zwei Romane zuvor. Lilit und ihr Autor erforschen in drei Raketenstufen und einem Countdown aus 50 Kapiteln das Geheimnis der »Frau im Mond«, die vieles zugleich ist: eine Göttin, Thea von Harbous Roman »Frau im Mond«, Fritz Langs daraus entstandener Stummfilm vor knapp hundert Jahren, und sie ist Rätsel und Symbol in Lilits Familie.
Schauplatz der weitverzweigten Nachforschungen ist vor allem der Libanon, geschunden vom Bürgerkrieg, von korrupten Politikern und Spekulanten, vom Bankencrash, von Inflation und der Verarmung seiner Bürger. Wasser, Elektrizität, medizinische Versorgung, alles ist Mangelware und Beirut eine »gekidnappte Stadt«, deren kollektives Gedächtnis systematisch gelöscht wird, auch in der Architektur. Lilit erlebt noch die Aufbruchstimmung, die Proteste und ihre mutigen Menschen – bis zur Hafenexplosion 2020.
Immer mehr Menschen befragt sie. Der Roman wird zur russischen Puppe, zum Kaleidoskop immer neuer Bilder, Schicksale, Ereignisse, Orte und Themen vom Teppichknüpfen bis zu den Brieftauben Beiruts. Er ist Abenteuer-, Spionage- und Liebesroman, Familiensaga und Legende, handelt vom Fortschrittsglauben und von Verantwortung eines Pioniers tödlicher Raketen wie Wernher von Braun, von Gewalt, Flucht und Migration, von Erfindern und Träumern, die immer mehr wollten als das Jetzt. »Es gibt für den menschlichen Geist kein niemals«, schrieb Anoush an Maroun, ein Zitat aus Fritz Langs Stummfilm. Aber Impuls für Pierre Jarawan war zunächst ein Foto der »Haigazian Rocket Society«, die es wirklich gab, ein paar armenische Forscher und Studenten am Haigazian College in Beirut, die – mitten im sowjetisch-amerikanischen Weltraumwettlauf – nichts weniger wollten, als eine libanesische Rakete zum Mond zu schicken. Im Roman sind es Großvater Maroun, seine Studenten und als Zaungast seine Frau Anoush, die als Armenierin den Genozid überlebt hatte.
Lilits Suche nach der Großmutter führt hundert Jahre zurück zum Massaker an Armeniern im osmanisch-türkischen Sepastia, zu Deportation und Zwangsassimilation der Menschen und zum Waisenhaus Antoura, in dem 1000 armenische und 300 kurdische Kinder zu Nummern gemacht, »umerzogen«, gequält wurden und starben oder 1915, beim Kollaps des Osmanischen Reichs, auf einen Todesmarsch gezwungen wurden.
Allein diese erschütternde Geschichte wäre genug Stoff für einen kapitalen Roman, aber Pierre Jarawan liebt überraschende Exkurse, verflochtene Handlungsstränge und Erzählfäden, mal lose, dann wieder kunstvoll verwoben in diese opulente Textur, die dem Raketenteppich der Großmutter gleicht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind gekonnt überblendet, Fragen von gestern sind Fragen von heute in diesem raffinierten Vexierspiel, in dem sich Lilit in Lina spiegelt, Maroun in Anoush, Fakten in Fiktion und vice versa. Weil Pierre Jarawan um seine verwirrende Orchestrierung weiß, resümiert er das Geschehen immer wieder, wendet sich an die Leserschaft und schafft, als einstiger Filmstudent, mit Cuts und Cliffhangern enorme Spannung, mit Dialogen große Lebendigkeit und mit Bildern einen poetischen Zauber: »Der Winter verlässt Beirut über Nacht«, schreibt er, und schon ist man mittendrin.
Seit gut zehn Jahren schreiben Autor*innen, zunehmend selbstbewusst, migrantische Familiengeschichten und forcieren damit identitätspolitische Debatten. Pierre Jarawan ist leiser, zurückhaltend, auf unterhaltende Weise literarisch und weltoffen. »Geschichten erzählen, wer wir einst waren« und wer wir sind, weiß er, und webt sein Erzählen aus Erinnerung, historischen Fakten und fiktionaler Wahrheit. Drei Romane sind bisher daraus entstanden, immer besser, immer anders, alle mit Themen wie Migration und Identität, Erinnern und Erzählen. »Frau im Mond« ist der bislang komplexeste, spannendste Roman seiner Trilogie, eine kluge, kühne, ja überwältigende Menschheitserzählung. »Wer wird von uns erzählen«, fragt ein Zeitzeuge. Lilit nimmt den Auftrag und ihre libanesische Herkunft an, erzählt vom Leid der Vergangenheit und mutigen Protesten im Libanon heute und wird auf knapp 500 Seiten von einer Dokumentarfilmerin zur Geschichtenerzählerin, zum Hakawati wie ihr Autor Pierre Jarawan. ||
PIERRE JARAWAN: FRAU IM MOND
Berlin Verlag, 2025 | 496 Seiten | 26 Euro | Website
LESUNG MIT PIERRE JARAWAN
Autorenbuchhandlung ABC | Wilhelmstr. 41 | 28. Mai | 19.30 Uhr | Tickets und Info
Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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