Das Gärtnerplatztheater denkt den »Figaro« weiter und macht ihn zum »Tollsten Tag«. Ein Experiment mit Fragezeichen.
»Als Beaumarchais’ ›Figaro‹ gespielt wurde, war die Revolution auf dem Marsch«, soll Napoleon gesagt haben. 1971 hat der kantige Autor Peter Turrini (*1944) eine Weiterführung des Stoffes geschrieben, den Johanna Doderer (*1969) jetzt vertonte und das Gärtnerplatztheater uraufführte. Zur Einstimmung waren auf dem schwarzen Zwischenvorhang etliche kernige Sätze des die Handlung fortspinnenden Turrini-Librettos zu lesen, etwa Figaros »Herr Graf, das Recht ist so sehr auf Eurer Seite wie die Macht. Also habt Ihr die Macht, recht zu haben.« Zusätzlich streute Turrini auch verbale Deftigkeiten und sexuell eindeutige Anspielungen ein.
Zu Beginn ertönte im dunklen Theater jedenfalls ein kanonenschussartiges Tutti. Dann zeigte Heiko Pfützners Bühne ein halb offenes Geviert aus farblich verblichenen Stofftapetenwänden. Regisseur Joseph Köpplinger und Mitarbeiterin Ricarda Ludigkeit ließen in der Mitte eine kleine Drehbühne aufsteigen, auf der ein wüst erscheinendes, aber raffiniert ausgeklügeltes Gewirr aus alten Bettkästen, Truhen, Matratzen und Wohnmöbeln kreiste. Das »Türen-Problem« der Handlung war gelöst, eine Endzeit der Aristokratie sichtbar. Dazu standen dann Birte Wallbaums mal grotesk, mal absurd überdrehte grellfarbige Kostüme rätselhaft quer. Die mehrfach betonten männlichen Geschlechtsteile bis zum fülligen Nacktpo des Grafen (mit markantem Tenor Daniel Schliewa) waren eigentlich verzichtbar.
Positiv wirkte dagegen auf dieser Turnszenerie die feine Personenführung der Regie. Wechselbäder der Gefühle wurden sichtbar. Cherubin ist zu einem handfesten jungen Mann gereift, was Paul Clementi darstellerisch wie sprechgesanglich gut gelang. Der Figaro von Daniel Gutmann überzeugte mit schönem Bariton als der bei Beaumarchais durch Berufserfahrungen gewitzte, aber emotional auch überschäumende »3. Stand« der kommenden Revolution. Gräfin und Susanne waren durch Réka Kristóf und Anna-Katherina Tonauer reizvoll anzuschauen und verströmten Sopransüße.
Ein neuer Akzent der Partitur war die ausführliche Klagearie »Ich habe nichts, was ihr nicht habt«, mit der sich Marzelline direkt ans Publikum wandte und was Mezzosopranistin Anna Agathonos zu einem eindringlichen Ruhepunkt der Handlung machte. Dergleichen gelang der Komponistin Johanna Doderer in den 100 Minuten Aufführung ohne Pause aber nicht für Susannas Liebesreflexion und Cherubins Kriegstod-Beschwörung. Sie führte zwar alle Stimmen sanglich, ohne modernistisch-modische Diskant-Dissonanz-Antibetonungen. Aber eingängige Themen oder fesselnde Höhepunkte fehlten, auch wenn Dirigent Eduardo Browne mit dem konzentriert aufspielenden Orchester Blechfanfaren, düsteres Klanggrummeln und melodiös schwebende Holzbläserlinien herausarbeitete. Und leider fesselte auch das neue Finale nicht: Figaro erwürgt ja den Grafen und flieht mit Susanne. Der eingefügte Intrigant »Bazillus« von Juan Carlos Falcón steht an der Leiche, brüllt »Mord! Totschlag! Revolution!« und fügt leise zweifelnd »Revolution?« an, dann Orchestertutti wie zu Beginn, Vorhang. Da war von Turrini wie von Doderer viel mehr zu erwarten – zum »tollsten« wurde dieser Tag nicht. ||
PETER TURRINI / JOHANNA DODERER:
DER TOLLSTE TAG
Gärtnerplatztheater | Gärtnerplatz 3
9., 21., 23. November | 19.30 Uhr (So 18 Uhr) Tickets: 089 21851960
www.gaertnerplatztheater.de
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