Vor 30 Jahren startete die erste Ausgabe des biennalen Theaterfestivals Spielart in München. Sabine Leucht hat die aktuelle Festivalleiterin Sophie Becker gefragt, was sich geändert hat, was neu ist und was sich zu sehen lohnt – und was es mit dem überraschend positiven Motto »Some kind of tomorrow« auf sich hat.
»Vaca« ist das spanische Wort für Kuh, und eine solche bekommen drei Menschen geschenkt, in deren Leben es bis dahin nichts umsonst gab. Doch mit dem Besitz kommen auch neue Probleme: Was macht man mit so einem Tier? Und wie weit muss man sich dafür von seinen bisherigen Überzeugungen entfernen? Die Kuh als »Katalysator für existenzielle, soziale und politische Fragen« stehe im Zentrum von »Vaca«, textet das Spielart-Programmheft. Das Stück des chilenischen Autors und Regisseurs Guillermo Calderón ist eine komödiantische Abrechnung mit dem Spätkapitalismus, die von der gesellschaftlichen Peripherie aus zu eruieren versucht, »wie Menschen zu Faschist*innen werden, ohne es zu bemerken«.

Szene aus „Vaca“ | © Andrés Eyzaguirre – Fundación Teatro a Mil
Blicke über den Tellerrand
Ob so anschaulich und unterhaltsam wie hier oder in eher theorielastigen Lecture Performances: Die Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart gehört seit Langem zum Spielart-Festival, bei dem es anfangs vor allem um neue Theaterformen ging. Sophie Becker, die 2009 als Dramaturgin einstieg und das Festival 2025 zum dritten Mal alleine leitet, hat den politischen Fokus geschärft und auf der Suche nach Gastspielen, Koproduktionspartner*innen und zuletzt auch Ko-Kurator*innen den Blick weit über Europa hinaus schweifen lassen. Denn wenn man in den westlichen Gesellschaften etwas erkannt hat in den letzten Jahren, dann ist es die Beschränktheit der eigenen Perspektive. »Einen kompakten Überblick über das zeitgenössische Theater« zu liefern, wie es die Spielart-Erfinder Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger 1995 behauptet hatten, würde sich heute niemand mehr anmaßen. Und die beiden hatten beileibe keinen Hang zur Aufschneiderei.
Dreißig Jahre später sind ganze sieben Ko-Kurator*innen für die neue Spielart-Programmlinie »Birds on Peripheries« verantwortlich. Gabriel Yépez Rivera aus Mexiko, Virginie Dupray aus Portugal, Aurélien Zouki und Éric Deniaud aus dem Libanon, June Tan aus Malaysia und Satoko Tsurudome und Sankar Venkateswaran aus Indien haben sich auf fünf Produktionen aus dem globalen Süden geeinigt, die sie nicht nur künstlerisch spannend finden. Ihre marginalisierten Sichtweisen und Erfahrungen sollen – so erklärt sich der Veranstaltungstitel – die privilegierten, aber teilblinden »Vögel« in der Mitte des globalen Schwarms informieren. Denn interessanterweise lenken in einem Vogelschwarm diejenigen, die am Rand fliegen, das ganze Kollektiv.
Die künstlerischen Kundschafter*innen und Seismografen von Gefahr und Veränderung kommen aus Beirut, Bangalore, Kuala Lumpur, Pachuca, Goma und Abidjan zum Spielart-Finale ins Münchner Kreativquartier (31. Oktober, 1. November). Viele von ihnen sind erstmals in Europa, wobei sich laut Becker »die Idee von Exklusivität gewandelt hat«. Behielt man früher seine »Entdeckungen« gerne für sich, tauschen sich Festivalmacher*innen heute früh darüber aus, auf welche Einladungen man sich eventuell einigen kann. Aus finanziellen wie Umweltschutzgründen, aber auch im Sinne der Künstler*innen, denen man laut Becker »auch nicht zumuten kann, für einen Abend von der Côte d’Ivoire rüberzufliegen«. Zu überlegen, was ihnen der Auftritt bei einem europäischen Festival bringt, sei in den letzten Jahren immer wichtiger geworden: »Die einen haben irrsinnige Erwartungen à la einmal Europa und die Karriere läuft die nächsten 60 Jahre, andere wiederum haben gar kein Interesse daran, ein Projekt zu pitchen.« Ihr Traum ist es deshalb, eine Stelle zu schaffen, die die eingeladenen Produktionen weiterbetreut und das auf höherem Niveau weiterbetreibt, was der Spielart-Leiterin am wichtigsten ist: neue Konstellationen stiften. »Die Frage ist ja immer: Was kann ein Festival leisten, das nur alle zwei Jahre stattfindet? Und Leute zusammenbringen, das können wir schon.«
Doch das mit der Extrastelle wird wohl ein Wunschtraum bleiben. Auch wenn die von der Stadt München und BMW gemeinsam finanzierte Biennale bislang von Sparmaßnahmen verschont worden ist. »Wir sind sehr fair behandelt worden«, sagt Becker, »aber wir kämpfen mit der Inflation und damit, dass das Einwerben von Drittmitteln extrem schwierig geworden ist. Wir sind froh, dass wir in diesem Jahr so viel koproduzieren konnten, aber man merkt, dass das ganze kulturelle Ökosystem ins Straucheln gerät.« Und nicht nur das: »Wir haben immer mehr mit Künstler*innen aus akut krisenhaften Regionen zu tun.« Da muss man menschlich wie vertraglich damit umgehen lernen, wenn ein Regisseur aus der Ukraine ein paar Monate vor Festivalbeginn sagt, dass er dienen will, falls er eingezogen wird, oder wenn Künstler*innen fragen, inwieweit sich Spielart für die Unabhängigkeit Taiwans einsetzt. Wobei die Festivalleiterin einräumt: »Ich glaube, dass wir diese Anspruchshaltung auch geweckt haben. Die Theater haben sich während der Pandemie allzu willfährig als Hort der Demokratie ausgerufen.«
Neue Gesichter – alte Bekannte
Dabei gebe es noch nicht mal zu jedem brennenden politischen Thema gleich interessante Kunst: »Manche Themen sperren sich, und Kunst braucht auch Zeit«. Und Distanz. So gibt es bei Spielart in diesem Jahr noch nichts zum Nahen Osten, dafür aber zwei Arbeiten über den Genozid in Ruanda 1994 (»Umunyana« und »Umuko«) und eine barrierefreie Performance zur Erinnerung an den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki (»Scored in Silence«). Recht konkret im Heute verortet ist Julian Hetzels »Three times left is right« über ein reales Paar, das im Dialog zu bleiben versucht. Er ist ein linker Kulturtheoretiker, sie zählt sich zur Neuen Rechten. Erwartet uns hier das Stück zur Spaltung der westlichen Gesellschaften?
Spielart-Aficionados kennen es: Kaum erscheint das neue Programm, geht die Suche nach alten Bekannten los. Zum dreißigjährigen Bestehen des Festivals gibt es diese »alten Bekannten« endlich als Rubrik. Unter ihr finden sich auf der Website alle Künstler, die schon mindestens einmal Teil des Festivals waren. Zehn von 29 Positionen besetzen sie diesmal. Hetzel oder die ägyptische Regisseurin Leila Soliman gehören dazu, aber auch Spielart-Künstler*innen der ersten Stunde wie Rimini Protokoll und das deutsch-britische Kollektiv Gob Squad, das laut Sophie Becker »mit einer kleinen Arbeit kommt, deren Thema bei allen anderen eher Kirchentag-Assoziationen wecken würde, aber den speziellen Gob-Squad-Humor gut zur Geltung bringt.«
Becker freut sich besonders auf die Stücke im öffentlichen Raum und darauf, dass das Festivalzentrum vom Rosenheimer Platz ins Bahnhofsviertel zieht – »das natürliche Habitat vieler unserer Künstler«. Außerdem zeigt Spielart erstmals drei Jugendproduktionen, »nachdem wir festgestellt haben, dass es keinen Grund gibt, keine zu zeigen.« Beckers Begründung klingt lapidar, dass es ihr auch um Teilhabe geht, verrät die Neugründung von »Spielart Youth«: Hier soll unter der Leitung von Noah Thalia Schöller eine Gruppe junger Menschen das gesamte Festival begleiten. Dass sie im überalterten Deutschland längst eine Minderheit sind, fällt der Vielreisenden immer wieder auf, wenn sie in Afrika ist. »Da ist eine Menge Energie, die uns hier gerade fehlt.« Der internationale Blick relativiert auch das hierzulande exzessiv gepflegte Krisengerede. Weshalb das Festivalmotto mit »Some kind of tomorrow« überraschend positiv ist, aber auch einen Suchauftrag beinhaltet.
»Wow«-Produktionen und leichte Muse
Im Spielart-Programm stricken an möglichen Zukünften mit: viele Choreograf*innen wie Nora Chipaumire, Nadia Beugré, Jeremy Nedd und Dorothée Munyaneza mit teilweise exzellenten Tänzern. Denn erstens braucht der Tanz keine Übertitel, und zweitens brauche ein Festival laut Becker auch »Wow-Produktionen« als Gegengewicht zu den vielen schweren Themen. Oder ein bisschen leichte Muse wie in Christiane Rösingers »Klassenrevue«, für die die Münchner Kammerspiele Spielart nach längerer Zeit wieder in ihr großes Haus lassen.

In Christiane Rösingers »Die große Klassenrevue« dürfen auch Tiere mitsprechen | © Christoph Voy
Damit ist die Biennale in diesem Jahr auf ziemlich allen Bühnen der Stadt präsent. Und das mit außergewöhnlich vielen Münchner Künstler*innen. Für einen von ihnen, Serge Okunev, hat Sophie Becker sogar eines ihrer Prinzipien über den Haufen geworfen. Als stellvertretende Leiterin des Regiestudiengangs an der Bayerischen Theaterakademie lädt sie eigentlich keine Student*innen ein. »Aber bei Serge waren wir alle sicher, dass man von ihm noch hören wird – und dass seine Performance über die Grenzen zwischen Kunst und Propaganda in Russland und Uganda ein größeres Publikum verdient.« Das in der Tat so mutige wie überraschende Zweipersonenstück »Oder kann das weg« ist am 17. und 18. Oktober als eine der Eröffnungsproduktionen im Werkraum der Kammerspiele zu sehen. Sie ist nur ein Beispiel für eine Kunst, die zunehmend über den lokalen Tellerrand blickt. Das gilt auch für die in München und in Nairobi entstandene Groteske »This plot is not for sale« von Denijen Pauljevi´c (Serbien), Gisemba Ursula (Kenia) und Theresa Seraphin (Deutschland) und für Nihan Devecioğlus musikalische Annäherung an die Gastarbeiterinnen, die, wie sie sagt, »BMW mit aufgebaut haben«. München ist halt nicht nur eine Stadt in Bayern, sondern ein Teil der Welt. ||
SPIELART FESTIVAL:
SOME KIND OF TOMORROW
Verschiedene Orte
17. Oktober bis 1. November
Programm und Tickets: www.spielart.org
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